Leon Goretzka ist ein Mann der klaren Worte, rettet sich nur selten in Plattitüden. So stellte er gleich bei seiner Vorstellung im Sommer, nachdem er mit vielen seiner neuen Kollegen ein Debakel bei der Weltmeisterschaft in Russland erlebt hatte, klar, dass er sich als künftigen Führungsspieler beim FC Bayern sieht.
"Grundsätzlich bin ich in der Lage, so eine Position einzunehmen", erklärte er auf dem kleinen Podest im Mediencenter an der Säbener Straße.
Aussagen, die auf ein gesundes Selbstbewusstsein hindeuteten, welches vielleicht auch auf dem von ihm selbst bestätigten Interesse des FC Barcelona fußte. Er sei sich aber sicher, mit dem FC Bayern die beste Option gewählt zu haben, sagte er damals.
Leon Goretzka steht Rede und Antwort
Ob er seine Entscheidung in den viel zitierten Krisenwochen, den Tagen des Chefabteilungszorns, zwischenzeitlich bereut hat, ist nicht überliefert.
Neben dem Platz untermauerte Goretzka seinen Anspruch jedenfalls, stand den Journalisten nach den - für Bayern-Verhältnisse - zahlreichen Rückschlägen ganz führungsspielerartig Rede und Antwort, bisweilen mit herausforderndem Blick, der auf eine gewaltige Portion Wut im Bauch schließen ließ.
Leon Goretzka im offensiven Mittelfeld blass
"Wenn man von Klasse spricht, impliziert das für mich auch Mentalität", entgegnete er beispielsweise nach dem 3:3 gegen Fortuna Düsseldorf gereizt auf die Nachfrage, ob die ungewohnt lange Talsohle auch auf mangelnde Einstellung zurückzuführen sei. So aussagewillig der gebürtige Bochumer während der Schwächephase agierte, so wenige Argumente lieferte er auf dem Rasen.
Neben dem wochenlang mangelhaft aufspielenden Thomas Müller im offensiven Mittelfeld aufgeboten, wirkte Goretzka deplatziert und uninspiriert, nicht wirklich eingebunden ins Spiel. Trotz überwiegend zufriedenstellender Werte wie Passquote (durchschnittlich 85 Prozent) und Anzahl der Ballaktionen (599 in neun Bundesliga-Einsätzen).
"Wir werden schon rausfinden, woran es liegt", prophezeite der Nationalspieler im Anschluss ans Remis gegen die Fortuna - und sollte damit recht behalten.
Offenbar haben die Protagonisten um Führungsetage, Trainerstab und Spieler die Gründe für das zwischenzeitliche Tief anständig aufgearbeitet. Die Gespräche, die im Vorfeld des richtungsweisenden 5:1 gegen Benfica Lissabon geführt wurden, trugen allem Anschein nach Früchte.
Analyse-App wird zum obligatorischen Hilfsmittel
Angeblich auch, weil die Profis mittlerweile mit einer speziellen Analyse-App arbeiten. Wie die Bild berichtet, habe Team-Managerin Kathleen Krüger den Jungs in einer WhatsApp-Gruppe aufgetragen, sich die App, deren Name in der Meldung nicht genannt wurde, herunterzuladen.
Ein sinnvolles Tool, findet Goretzka, der in der Bild sagt: "Mittlerweile bekommen wir die Szenen zusammengeschnitten und in die App gestellt. Die Szenen gucke ich mir nach jedem Spiel an."
Doch nicht nur in Bezug auf virtuelle Hilfsmittel nahm Trainer Niko Kovac Verbesserungsvorschläge ganz offensichtlich an, veränderte sein System, indem er Joshua Kimmich auf die Sechserposition berief, Rafinha anstelle dessen als Rechtsverteidiger aufstellte und eben auch Goretzka eine neue Rolle zuwies. Der ehemalige Schalker darf nun Seite an Seite mit seinem Kumpel Kimmich die Geschicke im defensiven Mittelfeld leiten.
Eine Konstellation, die zwar "etwas aus der Not geboren" sei, wie Kovac verriet, aber "erst einmal beibehalten" werden soll. Weil die Beiden sich in der Zentrale nämlich zu einem starken Duo mausern. Kimmich, bei dem das Sechser-Gen ohnehin quasi in der DNA verankert ist, sagte zuletzt bei Sky: "Wir ergänzen uns ganz gut auf der Position. Wir haben auch schon in der Jugend, in der U21 zusammengespielt. Wir kennen uns schon lange und es macht immer wieder Spaß, mit ihm zu spielen."
Leon Goretzka: "Eine Aufgabe, die mir liegt"
Goretzka schätzt die Situation ebenfalls positiv ein: "Ich habe mehr Spielanteile auf dieser Position. Wenn man im Spielaufbau etwas defensiver steht, kann man das Spiel besser lenken. Das ist eine Aufgabe, die mir liegt."
Das von Kimmich beschriebene Ergänzen belegen auch die Zahlen. Während er die stets anspielbare Passmaschine gibt und dabei teilweise Werte (zuletzt 94,3 Prozent) fabriziert wie Toni Kroos an seinen besten Tagen, bringt sich Goretzka mit seiner Zweikampfstärke ein.
Im jüngsten Duell mit dem 1. FC Nürnberg gewann kein Bayern-Mittelfeldspieler mehr Zweikämpfe als er, zudem bereitete der Confed-Cup-Sieger von 2017 mit einem satten Schuss ans Lattenkreuz, den Robert Lewandowski dankend abstaubte, das 2:0 gegen die Franken vor.
Niko Kovac voll des Lobes für Goretzka und Kimmich
Kovac weiß die Leistungen seines neuen Pärchens durchaus zu würdigen: "Beide haben ein sehr gutes Fußballverständnis, sehen gewisse Situationen. Sie verstehen sich auch außerhalb des Platzes, das ist auch sehr wichtig. Das ist eine Achse, die im Moment Spaß macht."
Vor der Entscheidung um den Gruppensieg in der Champions League bei Ajax Amsterdam machte der Kroate abermals deutlich, dass er vorerst keinen Grund gibt, sein derzeit funktionierendes 4-2-3-1 zu ändern.
Er merkte auf der Pressekonferenz in der Johan-Cruyff-Arena aber auch an, dass die Mittelfeld-Besetzung Goretzka/Kimmich diesbezüglich nicht in Stein gemeißelt ist. "Das ist unabhängig von den beiden. Thiago kommt zurück und er kann die Position definitiv auch spielen." Der Spanier muss sich allerdings noch immer vollends von einem Außenbandriss im Sprunggelenk erholen.
Erst einmal kann Goretzka aber noch weiter an seinem Vorhaben arbeiten, in naher Zukunft Führungsspieler bei den Bayern zu werden. Der ablösefreie Sommerneuzugang scheint sich mittlerweile akklimatisiert zu haben. Dass er zu den Gewinnern der Veränderungen zählt, basiert aber wohl nicht darauf, dass er sich Spielszenen in einer App anschaut, sondern vielmehr behagt ihm die Rolle anscheinend schlicht mehr.
Auf dem Weg nach oben bleibt er dennoch ein Mann der klaren Worte, wie zuletzt im Interview mit Sport1: "Wir sind auf einem guten Wege, uns wieder zu berappeln. Wir sind die ersten Schritte gegangen und jetzt müssen wir weitermarschieren."