SPOX: Frankfurt-Präsident Peter Fischer hat klar Position bezogen gegen die AfD und Antisemitismus, musste sich dafür in Teilen aber sogar rechtfertigen. Sie haben zum Ende Ihrer Zeit bei 1860 München auch Ewald Lienen erlebt, der ebenfalls öffentlich gegen Rassismus eintritt. Wieso sind diese Leute leider nur lobende Ausnahmen?
Baumgartlinger: Schwer zu sagen. Das hängt für mich wieder mit dem Schwarz-Weiß-Thema zusammen: Entweder man bekommt massiv auf die Fresse oder man wird in den Himmel gelobt. Für die Zwischentöne scheint sich niemand mehr großartig zu interessieren. Ich jedenfalls respektiere Personen, die Rückgrat zeigen.
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SPOX: Auf gewisse Weise betrifft die Sache mit den Zwischentönen auch Ihren ehemaligen Mainzer Trainer Thomas Tuchel, zu dem Sie 2011 nach zwei Jahren bei Austria Wien gewechselt sind. Über ihn heißt es: Toller Trainer, aber schwieriger Mensch.
Baumgartlinger: Das kann ich so nicht bestätigen. Er ist Perfektionist, völlig versessen vom Fußball und sehr leidenschaftlich dabei. Deshalb fordert er unheimlich viel. Natürlich kann er durch diese Wesenszüge auch mal über das Ziel hinausschießen, aber nur, weil er mit jeder Faser seines Körpers für die Sache lebt und erfolgshungrig ist. Er investiert extrem viel Zeit und Arbeit in seinen Job. Das kann theoretisch auch mal zu einer Schwäche werden, trotzdem kann ich sehr viel Positives über ihn berichten.
SPOX: Der Schritt nach Mainz war bis dato der größte, den Sie getätigt haben. Wie sehr hat die Arbeit unter Tuchel Ihre Denkweise über den Fußball verändert?
Baumgartlinger: Er hat meine Sicht auf den Fußball verändert - eigentlich schon ab unserem ersten Telefongespräch. Ich war erstaunt, wie klar er mich als Spieler sah und wie gut er mich kannte, obwohl er mich ja nie trainiert hatte. Er sah Stärken in mir, die ich auch sah, die aber viele andere wohl nicht erkennen. Ich habe schnell gemerkt, dass es mit ihm speziell sein könnte. In den drei Jahren unter ihm sind meine Erwartungen sogar übertroffen worden. Er hat mir sehr, sehr viel für meine Karriere und für mein Spiel beigebracht.
SPOX: Sehr viel heißt konkret was?
Baumgartlinger: Da geht es um alle Bereiche: Vor- und Nachbereitung, Analyse, Trainingsgestaltung, technische Übungen oder Details, an die man sonst kaum denkt. Das ist bei mir mit der Zeit alles in Fleisch und Blut übergegangen. Es war wirklich imposant unter ihm.
SPOX: Viele sagen, die Einheiten unter Tuchel seien gerade für den Kopf sehr anstrengend. Sie sollen zu Beginn Ihrer Zeit in Mainz auch relativ nervös gewesen sein im Training. Wie groß war die Umstellung für Sie?
Baumgartlinger: Jetzt im Nachhinein würde ich sagen, sie war normal. Ich wusste ja auch, dass ich eine gewisse Anpassungszeit benötigen werde. Es war anfangs aber extrem, wie wach und bereit man sein musste, da Inhalte und Übungen auf einen zukamen, von denen man noch nie gehört hatte - man sollte sie aber trotzdem umsetzen und am besten noch in taktischer Hinsicht dies und jenes beachten. (lacht) Das konnte ich zu Beginn zwar alles verarbeiten, aber es hat nicht immer alles zeitgleich geklappt.
SPOX: Die Arbeit hat aber gefruchtet, Sie haben sich in Mainz zu einem gestanden Führungsspieler entwickelt.
Baumgartlinger: Ich brauchte Zeit und vielleicht auch mal einen Misserfolg, um das alles zu meistern. Dafür war mein Entwicklungsschritt dann umso größer. Ich wollte mehr und mehr, noch schwierigere Aufgaben und noch anspruchsvollere Trainingsformen. Dadurch hat Thomas Tuchel letztlich das Niveau des Einzelnen, aber vor allem auch der Mannschaft deutlich angehoben.
SPOX: In Mainz kam es erstmals in Ihrer Karriere zu zwei schweren Knieverletzungen, die Sie monatelang außer Gefecht setzten. Sie sagten, in dieser Zeit haben Sie notgedrungen damit angefangen, das Leben als Profi zu reflektieren. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?
Baumgartlinger: Das war eine teils sehr mühsame Zeit, ich war lange auf Krücken unterwegs. Das hat mich schon fertig gemacht. Ich bin anschließend deutlich dankbarer geworden. Dankbarer dafür, gesund zu sein und diesen tollen Beruf ausüben zu dürfen. Ich habe gelernt, mir diese Wertschätzung tagtäglich in Erinnerung zu rufen und zu wissen: Es geht dir schon sehr, sehr gut mit diesem Job, sei einfach froh, dass du gesund bist. Mit dieser Haltung ist alles viel leichter.
SPOX: Reifte zu dieser Zeit auch der Gedanke, nach Mainz noch einmal etwas Neues auf einer höheren Stufe ausprobieren zu wollen?
Baumgartlinger: Nein. Es war schon immer mein eigener Anspruch, meine Grenzen auszuloten und in der begrenzten Zeit der Karriere so gut es geht ans Limit zu kommen. Ich wollte unbedingt in der Champions League spielen. Dieses Ziel dann auch Realität werden zu lassen, ist gar nicht so einfach. Man baut mit den Jahren auch viele zwischenmenschlichen Beziehungen auf, lebt in einer schönen Stadt und hat eine tolle Zeit. Es hätte sehr viele sinnvolle Gründe gegeben, in Mainz zu bleiben. Dieses eine entscheidende sportliche Ziel hätte mich aber möglicherweise verfolgt und ich möchte mir später auf keinen Fall Bequemlichkeit vorwerfen.
SPOX: Nach fünf Jahren beim FSV ging es 2016 nach Leverkusen. In Ihrem ersten Jahr kamen Sie auf 30 Pflichtspiele. Inwiefern war es nach all den Jahren als Kapitän und Stammspieler schwierig für Sie, sich dem neuen Konkurrenzkampf und der Rotation unterwerfen zu müssen?
Baumgartlinger: Ich habe auch in Leverkusen Zeit benötigt. Wenn man älter wird, merkt man, dass einem die Erfahrung hilft und sie eine wichtige Rolle spielen kann. So schafft man es, ruhig zu bleiben und vielleicht auch ohne den großen Spielrhythmus sein Leistungsniveau zu erreichen. Das war für mich ein Inhalt dieser Herausforderung, die ich gerne gesucht habe - auch wenn ich dann mal zwei Spiele lang nur draußen sitze. Es ist in der letzten Saison eher deshalb schwieriger geworden, weil sich bei uns die gesamte Spielzeit in die falsche Richtung entwickelt hat. Das hat sich in diesem Jahr gedreht. Die sportliche Entwicklung bei uns stimmt, die Stimmung ist gut, ich komme häufiger zum Einsatz. So macht es natürlich mehr Spaß.