Der BVB im Derby: Sinnbild der Saison

Michael Zorc (l.) und Peter Bosz: Nach dem Derby war der Sportdirektor "fassungslos"
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Trotz 4:0-Führung vergab Borussia Dortmund im Revierderby am 13. Spieltag noch den Sieg über Schalke 04. Eine starke erste Hälfte, die vorhandene Schwächen überdeckte, dann der Einbruch - und schließlich der Absturz: Die 90 Minuten des BVB spiegelten den bisherigen Saisonverlauf fast exakt wider.

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Wenn man so will, strafte er seinen Vorgesetzen Lügen.

"Fassungslos" sei man angesichts der zweiten Halbzeit, hatte Sportdirektor Michael Zorc nur gesagt - seine versteinerte Miene in diesem Moment bedarf keiner weiteren Beschreibung. 4:0 hatte der BVB im Revierderby nach 45 Minuten geführt, eigentlich stand nach der Pause nur noch ein besseres Auslaufen an. Nicht unbedingt deshalb, weil der Klassenunterschied der beiden Teams so dramatisch gewesen war - Dortmund hatte die eigenen Chancen unter teils gütiger Mithilfe der Schalker eiskalt genutzt -, sondern weil ein 0:4-Rückstand erst einmal in der Geschichte der Bundesliga noch zu Punkten geführt hatte. Vor über 40 Jahren. Am Ende stand die Punkteteilung.

Dennoch hatte Trainer Peter Bosz nicht die Fassung verloren, als er auf der Pressekonferenz nach dem Spiel die üblichen Fragen über sich ergehen lassen musste. Fragen nach einem einmal mehr desaströsen Auftritt im zweiten Spielabschnitt. Fragen nach seiner Taktik. Fragen nach seiner Zukunft. Nein, er blieb gefasst. Und wiederholte als personifizierte Hilflosigkeit die Phrasen der letzten Wochen: So etwas dürfe. Einfach. Nicht. Passieren.

Was sollte er auch anderes sagen?

Dortmund im Derby: Mikrokosmos der Saison

Es soll Momente höchster Gefahr geben, da zieht das ganze Leben an einem vorbei. Nun darf man die Situation von Bosz nicht überdramatisieren, schließlich geht es "nur" um seinen Job, wenn sich Zorc, Geschäftsführer Watzke und Co. zusammensetzen und über Lösungen beratschlagen - vielleicht noch vor der Jahreshauptversammlung am Sonntag.

Aber der Verdacht drängt sich auf, dass in diesem einen Moment, als Naldo in der 94. Minute völlig unbedrängt zum Kopfball hochstieg - Gegenspieler Dan-Axel Zagadou hatte es doch tatsächlich geschafft, den kopfballstärksten Schalker komplett aus den Augen zu verlieren -, zumindest genau 1.080 Minuten vor seinem inneren Auge vorbeizogen.

Schließlich war das 4:4 gegen den verhassten Erzrivalen aus Herne West so etwas wie der Mikrokosmos der bisherigen zwölf Ligaspiele.

Dortmunds Saisonstart mit "ungeheurer Wucht"

Wie ein rassiges Vollblut hatte sich der BVB im September aus der Bundesliga-Startbox katapultiert. 3:0 gegen Wolfsburg, 2:0 gegen die Hertha, 0:0 gegen Freiburg, dann 5:0 gegen Köln, 3:0 gegen den HSV und schließlich 6:1 über völlig überforderte Fohlen. Beste Defensive der Liga, beste Offensive, begeisternder Offensivfußball. Die nach Spannung im Titelkampf lechzende Öffentlichkeit überschlug sich förmlich. "Der boszhafte BVB", analysierte die Süddeutsche die riskante Taktik des von Ajax Amsterdam gekommenen Trainers, sprach von "ungeheurer Wucht" und einem "gepinselten Gemälde von einem Sieg".

Dass auch zu diesem Zeitpunkt schon der eine oder andere Schwachpunkt auszumachen war, etwa in der Rückwärtsbewegung, und dass die Gegner durchaus zu hochkarätigen Chancen gekommen waren, fiel angesichts der vielen Siege nicht weiter ins Gewicht. Gegner, das muss man dazu sagen, die man so natürlich auch nicht zur Creme de la Creme zählen darf: Nimmt man die zuletzt durchgestarteten Gladbacher aus, stehen die genannten Gegner im Moment auf den Plätzen 13, 14, 15, 16 und 18.

Und so, wie man nach dem sechsten Spieltag schon die neunte Meisterschaft der Vereinsgeschichte fern am Horizont durchschimmern sah, schien am Samstag nach 45 gespielten Minuten im Signal Iduna Park zumindest das Ende der Krise erreicht, der Turnaround geschafft. Da war er wieder, der BVB in Topform.

Dass Schalke schon nach 30 Sekunden die erste Großchance gehabt hatte und von den Hausherren keineswegs in Grund und Boden gespielt worden war, fiel angesichts der 4:0-Führung nicht weiter ins Gewicht.

BVB: Erster Rückschlag gegen Leipzig

Die schwarz-gelbe Fassade bekam beim 2:1-Zittersieg in Augsburg erste Risse, bei der 2:3-Heimniederlage gegen RB Leipzig bröckelte schließlich endgültig der Putz. Trotzdem, kein Grund zur Panik: Bei den Fuggerstädtern muss man erst einmal gewinnen und irgendwann musste ja auch die Heimserie schließlich reißen. Und man hatte ja auch gegen die Bullen richtig ansehnlichen Fußball gezeigt.

So schien auch am Samstagnachmittag der Puls der Mannschaft nicht wirklich in die Höhe zu schnellen, als der eingewechselte Goretzka direkt nach Wiederanpfiff völlig frei über die Latte köpfte und Naldo aus Abseitsposition traf. Natürlich würde auch der Gegner mal zu Chancen kommen, und obendrein hatte man selbst ja auch Chancen auf den fünften Treffer, etwa nach Fährmanns überflüssigem Tänzchen.

Und so schien das Team in diesen Minuten etwas in der Luft zu hängen: Weder drückte man mit aller Macht auf den nächsten Treffer noch stellte man den eigenen Strafraum energisch zu.

Das Ende vom Lied ist bekannt: Burgstallers Bogenlampe, Harits 2:4. Ein Deja-vu in den Köpfen der Spieler. Und schließlich Caligiuri und Naldo. Aus 4:0 mach 4:4. Führung verspielt, Pfiffe von der Südtribüne.

Wie in den letzten Wochen eben auch der starke Saisonstart verspielt wurde, gegen Giganten wie Frankfurt, Hannover oder Stuttgart - von den Auftritten in der Champions League gegen Nikosia will man erst gar nicht reden. Nach der Punkteteilung gegen S04 steht Dortmund auf Rang fünf, Hoffenheim kann am Sonntag noch vorbeiziehen. Teilt man die ersten zwölf Spieltage in zwei Hälften auf, stehen eine richtig gute und eine richtig schlechte zu Buche. Da passte das torreichste Revierderby seit 1966 (6:2 für Dortmund, drei Tore von Lothar Emmerich) so richtig ins Bild.

Aubameyangs Leistung spiegelt seine Saison

Alternativ hätte sich Bosz in der 94. Minute übrigens auch an die bisherige Saison von Pierre-Emerick Aubameyang erinnern können: Acht Tore hatte der Gabuner in den ersten sechs Spielen markiert, alles eitel Sonnenschein, von Bockigkeit ob des nicht geglückten Abgangs zu PSG keine Spur.

Diese Erinnerungen bemühte Auba gegen Schalke in Halbzeit eins, als er das 1:0 selbst erzielte und dann Götze zur vermeintlichen Entscheidung bediente. Doch nach dem Wechsel bekamen die Zuschauer nur noch den Stürmer zu sehen, der seit Mitte Oktober nicht mehr getroffen hatte. Der den Ball nach Fährmanns Patzer fast so schlimm vertrödelte wie der Schlussmann selbst. Und der in der Schlussphase - sprich: am 12. Spieltag gegen den VfB - selbstverschuldet gar nicht mehr auf dem Platz war.

Und nun? Wenn das 4:4 sinnbildlich für das erste Saisondrittel stand, könnte am Samstag in einer Woche ja ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Dann tritt die Borussia bei Bayer Leverkusen an, vor der Winterpause warten in der Liga außerdem noch Werder, Mainz und Hoffenheim.

Nur: Bevor man ein neues Kapitel aufschlägt, wird zumeist auch ein Schlussstrich gezogen.

Peter Bosz: Die Mannschaft steht hinter ihm

Bosz gab sich angesichts des noch einmal gestiegenen Drucks kämpferisch. "Wir müssen hart arbeiten und nicht aufgeben", entgegnete er auf die Frage, wie es denn nun weitergehe. Er werde die Spieler aufbauen - selbst habe er Aufmunterung nicht nötig.

"Fakt ist, dass wir hinter dem Trainer stehen", gab auch Nuri Sahin öffentlich Rückendeckung. Schließlich habe man Schalke in Halbzeit eins "taktisch komplett zerlegt".

In der Analyse der Vereinsführung wird allerdings die zweite Hälfte eine ungleich größere Rolle spielen. "Es gibt kein Ultimatum", hatte Zorc vor Anpfiff noch klargestellt. 90 Minuten später war diese Überzeugung wie weggeblasen: "Das müssen wir jetzt erst einmal einordnen."

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