SPOX: Herr Herrlich, Sie sind seit ein paar Wochen erstmals zu Beginn einer Saison als Trainer eines Bundesligisten angestellt. Haben Sie darauf mit Ihrer Familie und Freunden angestoßen?
Heiko Herrlich: Nicht wirklich. Im Moment der Entscheidung hat das ja Konsequenzen für dein komplettes Leben, beruflich wie privat. Ich habe mich gefreut, aber ein Vertragsabschluss ist quasi kein Ziel, sondern der Anfang eines Weges und einer neuen Herausforderung. Für mich bestand daher kein Grund zum Jubeln.
SPOX: Nach dem geschafften Aufstieg in die 2. Liga mit Jahn Regensburg weilten Sie mit Ihrer Familie im Urlaub in Österreich, als Rudi Völler anrief und die Gespräche mit Bayer Leverkusen starteten. Was haben Sie in dem Moment gedacht, als das Telefon läutete?
Herrlich: Ich wusste schon einen Tag zuvor, dass man sich mit mir beschäftigt. Ich habe Signale von Leuten bekommen, bei denen sich Rudi Völler über mich erkundigt hat. Mir war also klar, dass etwas passieren könnte. Im ersten Moment hat mich das natürlich sehr gefreut, andererseits auch nicht komplett überrascht. Die erfolgreiche Arbeit in Regensburg ist registriert worden. Ich dachte aber nicht: Hoffentlich kriege ich den Job jetzt! Es herrschte eher eine Gelassenheit in mir und ich habe abgewartet, was passiert.
SPOX: Keine 72 Stunden später wurden Sie bereits der Öffentlichkeit vorgestellt. Wie haben Sie in dieser kurzen Zeitspanne sicherstellen können, das Für und Wider richtig abgewogen zu haben?
Herrlich: Man spielt als Trainer viele Dinge im Vorfeld durch, nicht nur vor einem Spiel. Ich hatte in Regensburg nach dem Aufstieg keinen gültigen Vertrag mehr. Dass man sich nicht unmittelbar danach bei mir gemeldet und alles daran gesetzt hat, schnell mit mir zu verlängern, kam mir merkwürdig vor. Daher dachte ich in dieser Situation auch mal an die Möglichkeit, was im Falle eines Falles wäre, sollte sich ein anderer Verein für mich interessieren.
SPOX: Und was war, als die Situation dann eintrat und es ernst wurde?
Herrlich: Es ist nicht einfach, eine solche Entscheidung endgültig zu treffen. Für einen selbst ist das kein Problem, einen Umzug kann man locker bewältigen. Doch wer denkt da an die Familie und Kinder eines Trainers oder Spielers? Es gibt viele Beteiligte bei einem solchen Gedankenprozess. Es fällt mir nicht leicht, meine Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld heraus zu reißen und zu sehen, wie sie sich von Freundschaften lösen müssen. Wie sollen die das verstehen? Man sollte stets abwägen zwischen menschlichen Werten und materiellen Dingen.
SPOX: Man könnte theoretisch auch erst einmal alleine leben und nach einer gewissen Phase der Eingewöhnung überlegen, die Familie dazu zu holen.
Herrlich: Natürlich. Aber auch wenn das erste Jahr super laufen sollte, heißt das nicht, dass es so weiter geht. Schauen Sie sich Claudio Ranieri bei Leicester City an, der nur ein paar Monate nach dem größten Vereinserfolg aufgrund der gestiegenen Erwartungen gehen musste. Das ist verrückt. Wenn eine solche Situation wirklich eintritt, hat man sie zwar bereits voraus gedacht. Es bleibt aber sehr schwierig, in dieser Hinsicht eine richtige Entscheidung zu treffen, weil sie eben von zu vielen Variablen abhängig ist.
SPOX: Sie arbeiten schon seit 2005 als Trainer. Ist es denn erst mit der Zeit Ihr Anspruch geworden, so weit oben wie möglich trainieren zu wollen oder war dieser Gedanke von Beginn an da?
Herrlich: Weder noch. Ich habe es als großes Privileg erachtet, nach meiner aktiven Karriere überhaupt weiterhin im Fußball arbeiten zu dürfen. Daher ist es für mich zweitrangig, ob das eine U17 ist, ein Regionalligist oder ein gestandener Bundesligaklub. Die Leidenschaft, mit Spielern zusammen zu arbeiten, sie besser zu machen und ihnen auch mal in den Hintern treten zu müssen, ist etwas Schönes und eine ständige Herausforderung. Ich verrate Ihnen mal was ...
SPOX: Gerne.
Herrlich: ... mein erster Titel als Trainer mit der U19 von Borussia Dortmund, als wir 2007 gegen Schalke 04 Westfalenpokalsieger im Elfmeterschießen wurden, löste in mir die gleichen Glücksgefühle aus wie der Aufstieg mit Regensburg. In den Gesichtern und Augen der Spieler sah ich diese unbändige Freude, aber auch ein Verzeihen dafür, was ich ihnen als Coach in Anführungszeichen alles angetan habe während der Saison - weil sie gemerkt haben, dass es sich gelohnt hat und ich sie nicht angelogen habe. Das ist für mich das schönste Gefühl, das man als Trainer haben kann.
SPOX: Ihre persönliche Geschichte ist eine besondere, da Sie Anfang des Jahrtausends von einem Hirntumor genesen sind und nur sechs Monate nach der Diagnose Ihr Comeback als Fußballer feierten. Seitdem denkt man bei Ihnen zumeist an dieses Thema, auch an Ihren offenen Umgang mit Ihrem Glauben. Kam Ihnen der Trainer Herrlich da mal zu kurz?
Herrlich: Nein. Arrigo Sacchi hat einmal auf die Frage geantwortet, wie er ohne erfolgreiche Spielerkarriere ein guter Trainer werden konnte: Muss ich ein gutes Pferd gewesen sein, um ein guter Jockey zu werden? Da hat er Recht, denn meine athletischen Fähigkeiten sind jetzt nicht mehr gefragt. Ich kann für die Jungs keinen Zweikampf mehr gewinnen oder ein Tor schießen. Mittlerweile sind andere Qualitäten gefragt, auch wenn es hinsichtlich des Trainerberufs sicherlich nicht schadet, einmal ein gutes Pferd gewesen zu sein.
SPOX: Um im Bild zu bleiben: Welche Eigenschaften aus Ihrer Zeit als Pferd helfen Ihnen aktuell als Jockey?
Herrlich: Das Wissen um die Abläufe. Meine größte Stärke ist das Beobachten, das hat mich schon als Spieler ausgezeichnet. Es gibt Dutzende Dinge, die ich sehe, fühle und beinahe schon rieche, ob in der Kabine oder außerhalb, durch die ich einfach weiß, wie sich die Spieler in der jeweiligen Situation oder nach einer bestimmten Trainingseinheit fühlen, was sie denken, wie sie über dich reden. Ich weiß dank meiner Zeit als Spieler, nun als Trainer damit richtig umzugehen und die entsprechende Überzeugungsarbeit zu leisten.
SPOX: Nach Ihrer Genesung sind Sie dankbarer und demütiger dem Leben gegenüber geworden. Diese Haltung kann man keinem Menschen zu 100 Prozent verständlich machen, wenn man eine solche Situation nicht schon selbst erlebt hat. Inwiefern ist es bedauerlich, dieses Gefühl nicht anderen Menschen in vollem Umfang einimpfen zu können, ohne dass sie dafür existenzbedrohende Situationen durchleben müssten?
Herrlich: Ich weiß genau, was Sie meinen: Man muss Mist im Mund gehabt haben, um zu wissen, wie er schmeckt. Das stimmt auch eindeutig. Andererseits haben viele Menschen und auch Profifußballer ihren persönlichen Rucksack zu tragen. Da haben auch viele unterschiedliche Schicksale erleiden müssen und daher eine ähnliche Demut in sich. Der Großteil ist meiner Erfahrung nach schon ziemlich geerdet. Mir persönlich kommt es darauf an, diese Dankbarkeit und dieses Gefühl vorzuleben.