Er war stets bemüht - das ist die wohl blumigste Umschreibung einer unzureichenden Arbeitsleistung. Dieter Hecking hat Julian Draxler nach seinen ersten 90 Minuten für den neuen Arbeitgeber auch so ein ähnliches Arbeitszeugnis ausgestellt. Beim 51-jährigen Wölfe-Coach klang das dann Mitte September so: "Julian hat's probiert. Es kann noch nicht alles gelingen."
Den anderen Neuzugang Dante mit eingeschlossen schob er mit einem Lächeln im Gesicht noch einen hinterher: "Beide waren so gut wie das Spiel." Bei einer laschen Nullnummer gegen Aufsteiger Ingolstadt kein gänzlich zufriedenstellendes Arbeitszeugnis.
Nach Draxlers Champions-League-Debüt drei Tage später gegen ZSKA Moskau klang das dann schon ein wenig anders: Das Hecking-Urteil wandelte sich von stets bemüht zu gut: "Julian war sehr präsent, hatte viele gute Ideen und macht das entscheidende Tor. Ich bin sehr zufrieden mit ihm." Auch die Presse feierte einen "bärenstarken" Julian Draxler.
Zu viel Verantwortung auf Schalke
Fußball ist eben schnelllebig. Und im Fußball wird Leistung eingefordert, wenn möglich immer und vom ersten Tag an. Leistungsträger müssen liefern und das nicht nur alle drei, vier Wochen, sondern jedes Wochenende aufs Neue.
Auf Schalke war Julian Draxler so ein Leistungsträger. Der "Crunchtime-Player", der Mann, der für die entscheidenden Tore zuständig sein sollte, der die Mannschaft mitreißen und Spiele gewinnen sollte - Woche für Woche. Julian Draxler war aber nur noch zu selten dieser Spieler. "Ich kam zu der Überzeugung, dass ich es auf Schalke nicht mehr geschafft hätte, dem Druck und der Erwartungshaltung stand zu halten", sagte Draxler unmittelbar nach seinem Wechsel zum Liga-Konkurrenten VfL Wolfsburg.
Eine durchaus realistische Einschätzung, schließlich stagnierte Draxler in den letzten Jahren in seiner Entwicklung und konnte sein zweifelsfrei vorhandenes Potenzial nicht ausschöpfen. Die Erwartungshaltung an das Schalker Eigengewächs war tatsächlich riesengroß, den Talent-Status hatte er in der öffentlichen Wahrnehmung ohnehin schon längst abgestreift - trotz seiner gerade einmal 22 Jahre. "Ich habe selbst nach sechs Monaten Verletzungspause gespürt, dass ich Spiele fast im Alleingang entscheiden sollte. Da habe ich gemerkt, dass es an der Zeit ist, andere Wege zu gehen", waren Draxlers Worte nach seinem Wechsel zum VfL.
Nur des Geldes wegen?
Dennoch klang die Begründung wie Hohn in den Ohren vieler, schließlich profitierte Draxler natürlich auch finanziell. Ein Wechsel ins Ausland? Okay. Aber zum Ligakonkurrenten und Werksklub Wolfsburg? Ein Stich ins Herz für die königsblaue Seele.
Juve-Boss Giuseppe Marotta legte in den vergangenen Tagen auch noch mal gegen den Mann nach, um dessen Dienste er wochenlang gebuhlt hatte: "Letzten Juli war Draxler bereit, zu Juventus zu kommen, dann änderte er seine Meinung und bevorzugte es, mehr Geld in Deutschland zu verdienen."
In eine ähnliche Kerbe hatte auch Schalke-Manager Horst Heldt geschlagen: "Ich denke, dass Julian bis zuletzt gehofft hat, dass es mit Juventus klappt." In einem Last-Minute-Transfer am Deadline-Day wurde Draxler schließlich statt nach Piemont vom Ruhrpott nach Niedersachsen transferiert.
Sinnvoller Wechsel
Betrachtet man den Wechsel aber ganz nüchtern, könnte es für beide Seiten die richtige Entscheidung gewesen sein. Klar hätte Draxler auch bei Juve in einem internationalen Spitzenteam gespielt und wäre in der Champions-League vertreten gewesen. Dennoch hätten bei einem Wechsel in die Serie A durchaus auch Gefahren bestanden.
In Wolfsburg musste er sich vergleichsweise weniger umstellen und anpassen. Und auch die Wölfe verfügen über eine gute Qualität im Kader und haben in Dieter Hecking und Klaus Allofs zwei kluge Strategen an Bord, die es verstehen, die vorhandenen Mittel richtig einzusetzen. Ein "One-Season-Wonder" wird der VfL wohl nicht sein. Wolfsburg wird auch in den kommenden Jahren stets ein Wörtchen um die Champions-League-Plätze mitreden, möglicherweise ist man schon in diesem Jahr in der K.-o.-Runde vertreten. Nach den beiden Siegen gegen Eindhoven und Moskau jedenfalls kein unrealistisches Szenario.
Lockerheit zurück
Draxler kann sich also bei einem ambitionierten, international vertretenen Klub weiterentwickeln. Draxler ist noch kein internationaler Topspieler, Wolfsburg noch kein internationaler Topklub. Beide können gemeinsam eine Entwicklung gehen und voneinander profitieren, denn in der VW-Stadt ist Draxler letztlich nur einer unter vielen, er ist nicht mehr derjenige, auf dem die Verantwortung und die Hoffnungen ruhen, keine Identifikationsfigur oder Publikumsliebling. Er kann sich schlicht freier entwickeln.
Das merkte man dem Mittelfeldspieler nach seinem holprigen Saisonstart beim Unentschieden gegen Ingolstadt zuletzt auch wieder an. Draxler blüht in der Autostadt mehr und mehr auf, gegen Hoffenheim und Darmstadt setzte ihn Trainer Dieter Hecking wieder auf seiner gewohnten Position als Linksaußen ein, nachdem er zu Beginn auch im offensiven Mittelfeld zum Einsatz kam.
Draxler dankte es mit überzeugenden Leistungen. In seinen drei Spielen als Linksaußen bereitete Draxler drei Tore vor. Auch in der Königsklasse bereitete Draxler das zweite Tor gegen Eindhoven mit einem energischen Sololauf vor. Ihm ist wieder eine gewisse Lockerheit anzumerken, die ihm zuletzt auf Schalke abhanden gekommen war.
Ziel Nationalmannschaft
Mit dieser neuen Lockerheit will er sich auch wieder für Deutschland interessant machen: "Mein Ziel ist, dass ich mich wieder in die Nationalmannschaft hineinspiele, den nächsten Schritt mache und eine feste Größe werde", sagte der 22-Jährige der Sport Bild. Bei Joachim Löw fand er letztmals bei seiner Einwechslung im WM-Halbfinale gegen Brasilien Beachtung - seither wurde er nicht mehr berücksichtigt - was vorerst auch so bleiben dürfte, denn die Konkurrenz auf seiner Position ist nach wie vor groß.
Mittlerweile ist auch der neu dazugekommene Karim Bellarabi am ihm vorbeigezogen. Bellarabi besticht vor allem durch seine Schnelligkeit, eine gegen die meist tief stehenden DFB-Gegner äußerst wichtige Waffe.
Ein paar gute Spiele für Wolfsburg werden also nicht reichen, um den Bundestrainer von einem Comeback zu überzeugen. Draxler muss seine Klasse dauerhaft unter Beweis stellen: "Julian hat ein Wahnsinnspotenzial, aber in den vergangenen Jahren hat er es aus verschiedenen Gründen zu selten abgerufen, in Schalke genauso wie in der Nationalmannschaft. Da ist meine Erwartung, dass er in diesem Jahr seine Klasse und sein Können ausspielt, und zwar konsequent."
"Stets bemüht" oder "gut" reichen dem Bundestrainer also nicht aus. "Stets sehr gut," lautet stattdessen das Credo. Gegen die Bayern hat Julian Draxler die nächste Gelegenheit, gute Noten für sein Saisonabschlusszeugnis zu sammeln.
Julian Draxler im Steckbrief