DIE NBA AWARDS 2017/18
Die Regular Season 2017/18 ist vorbei, es beginnt nun endlich die beste Zeit des Jahres: die NBA Playoffs! Bevor es am Wochenende ( live auf DAZN) losgeht, zieht SPOX ein Saisonfazit und verteilt die wichtigsten Awards – mit Hilfe von Sporting News-Redakteur Sean Deveney.
Endlich ist es wieder soweit! Die Regular Season ist durch, jedes Team hat, mehr oder weniger souverän, 82 Spiele absolviert und sich entweder für die Playoffs oder für die Lottery in Position gebracht. Zwar gibt es mit den Nets und Lakers auch Teams, die weder die Playoffs erreicht noch den eigenen (vermutlich hohen) Draft-Pick haben – aber darum soll es an dieser Stelle nicht gehen.
Denn jetzt stehen erst einmal wichtigere Dinge an. Am Wochenende beginnen endlich die Playoffs und leiten damit die wichtigste Zeit des Jahres ein. 16 Teams kloppen sich ums Weiterkommen und ermitteln zunächst, welche beiden Teams in den NBA Finals ab dem 1. Juni um die Larry O’Brien Trophy spielen werden. Spätestens am 19. Juni werden wir wissen, ob es jemand geschafft hat, die Golden State Warriors vom Thron zu stoßen.
Erst ein paar Tage später, genauer gesagt am 26. Juni deutscher Zeit, werden dann wie schon 2017 im Rahmen einer Awards-Show die Auszeichnungen der Regular Season vergeben. Die Awards beziehen sich aber auf die Regular Season – und deshalb werden sie bei uns auch schon jetzt vergeben!
Es gibt nicht viele Sportarten, in denen die Saison-Awards historisch so einen Stellenwert haben wie in der NBA. Seit dem letzten Collective Bargaining Agreement zwischen der Liga und den Spielern beeinflussen sie außerdem direkt, wieviel ein Spieler maximal verdienen kann. Sie sind also nicht nur prestigeträchtig, sondern tatsächlich wichtig, vor allem natürlich der MVP-Award.
Ich habe daher lange hin- und herüberlegt, bevor ich zu den folgenden – finalen – Entscheidungen gekommen bin. Und da meine Awards inoffiziell sind, habe ich den tatsächlich stimmberechtigten Kollegen Sean Deveney von Sporting News ebenfalls um seine Einschätzung gebeten. Natürlich könnt auch ihr für jeden Award abstimmen. Los geht’s!
Es ist an der Zeit
Räumen wir die größte Trophäe doch gleich aus dem Weg. Man hört ja in den letzten Jahren immer wieder den Ausdruck „MVP-Konversation“, wenn es darum geht, die Saisons von allen möglichen Spielern zu würdigen, und fragt sich: Was bedeutet das eigentlich? Ist „MVP-Konversation“ Top 5, Top 10, oder was genau?
Die Tatsache in dieser Saison ist: Eine ernsthafte Konversation um den MVP-Award ist nicht vonnöten. Das soll die Leistungen von Anthony Davis, LeBron James, DeMar DeRozan, Kevin Durant und einigen anderen (MVP-Konversation!) nicht schmälern, aber wenn man auf diese Saison zurückblickt, muss man einfach festhalten: Das Jahr 2017/18 gehörte James Harden. Man muss es nicht komplizierter machen, als es ist.
Harden ist in den letzten drei Jahren zweimal Zweiter bei der MVP-Wahl geworden, man kann also nicht behaupten, dass er ein Neuling in der NBA-Elite wäre – aber er hat in dieser Saison noch einmal einen Sprung gemacht. In einer Liga voller Ausnahmetalente war er in dieser Saison der Spieler, der am schwierigsten, beziehungsweise am wenigsten, zu verteidigen war.
Wer wird Champion? Die NBA-Playoffs live auf DAZN
Sein Coach Mike D’Antoni nannte Harden kürzlich den „besten Offensiv-Spieler, den ich je gesehen habe“, und ob man das übertrieben findet oder nicht – man kann zumindest dafür argumentieren. Harden vereint eine extrem gute Übersicht mit großartigen Scoring-Instinkten, er beherrscht vorne alle Facetten des Spiels. Harden führt die NBA in dieser Saison zum vierten Mal in Folge (!) bei den getroffenen und bei den versuchten Freiwürfen an. Obwohl vor allem wegen ihm die Foul-Regeln vor dieser Saison geändert wurden, spaziert er immer noch nach Belieben an die Linie.
Dabei ahnen Verteidiger zumeist, was kommt – der Stepback, der Crossover, wie auch immer –, aber Hardens Timing und Balance sind so außergewöhnlich, dass dies keine Rolle spielt. Er wackelt jeden Gegenspieler aus und schlängelt sich entweder vorbei, drückt ab oder zieht eben das Foul. Harden ist außerdem unermüdlich und bestraft jede Unaufmerksamkeit gnadenlos.
Und er realisiert, wieviel Angst die Verteidiger mittlerweile vor ihm haben; die Szene, in der er Clippers-Guard Wesley Johnson auf die Bretter schickte und dann sekundenlang anstarrte, bevor er warf, stand sinnbildlich für seine komplette Saison.
Die Rockets haben ihren Kader und ihre Spielweise zudem mittlerweile optimal auf die Stärken ihres besten Spielers abgestimmt. Dank Chris Paul muss Harden nicht mehr in jedem Angriff alles diktieren, wie er es letzte Saison tat, um dann in den Playoffs festzustellen, dass sein Tank komplett leer war. CP3 erlaubt es Harden auch, wieder mehr abseits des Balles zu agieren. In der Crunchtime trifft er immer noch viele, aber eben nicht mehr jede einzelne Entscheidung.
Natürlich läuft trotzdem noch extrem viel über Harden. Besonders brutal ist es für die gegnerische Defense, wenn er gemeinsam mit drei oder vier Shootern auf dem Court steht (was in Houston meistens der Fall ist): Harden läuft dann Iso um Iso und hat dafür mehr als genug Platz, weil eben niemand sonst absinken kann.
Wenn dann doch gedoppelt wird, spielt er eben den perfekten Pass – oder er setzt sich gegen mehrere Gegenspieler durch. Harden macht in dieser Saison 12,2 Punkte aus Isolation Plays pro Spiel. Um das kurz einzuordnen: Das sind mehr, als jedes TEAM in der NBA macht. OKC steht mit 10,3 Punkten auf Platz 2.
Die Rockets haben den in den letzten Jahren so verpönten Iso-Ball wieder sexy und salonfähig gemacht. Mehr noch: Mit ihrer Diät aus Dreiern, Isolation Plays und Freiwürfen haben sie eine der besten Offensiv-Saisons der NBA-Geschichte gespielt, ganz abgesehen davon, dass sie auch defensiv über die komplette Saison zu den besten Teams gehörten. Harden steht im Zentrum davon.
Aufgrund seiner Aussetzer und über einige Saisons wirklich miesen Defense wird Harden den Ruf als Defensiv-Allergiker wohl noch lange behalten, tatsächlich ist seine D aber spätestens seit der letzten Saison wieder auf einem akzeptablen Niveau – laut einer ESPN-Studie ist sie sogar überdurchschnittlich. Es gibt immer mal wieder Szenen, in denen Harden defensiv unglücklich aussieht, aber Fakt ist: Houston verteidigt mit ihm auf dem Court hochklassig.
Das ist die Hauptsache, zumal er vorne wertvoller ist als jeder andere Spieler in dieser Saison – Harden hatte gleichzeitig die verrücktesten einzelnen Leistungen (Triple-Double mit 60 Punkten?) und die konstanteste Performance über die ganze Spielzeit. Wie man es dreht und wendet, das Jahr gehörte ihm.
Es gibt Jahre, in denen man ausgiebig über den MVP-Award diskutieren kann – aber nicht in dieser Saison. Harden ist der MVP.
The French Rejection
Auch beim zweiten Award habe ich mich für jemanden entschieden, der in den letzten Jahren schon mehrfach relativ knapp an der Auszeichnung vorbeigeschrammt ist. Wobei Goberts Fall nicht ganz so eindeutig ist wie der von Harden – der Franzose hat viele Spiele verpasst (insgesamt 26), er fehlte den Jazz beinahe ein Drittel der Saison.
Man kann sich hier die Grundsatzfrage stellen: Wie viele Spiele reichen, um für einen Award in Frage zu kommen? Ich gebe zu, dass es für mich bei Gobert knapp ist, aber noch im Rahmen. Nachdem Andre Roberson ausfiel, hat sich kein anderer Spieler mehr so extrem in den Fokus spielen können. Wenn er fit war, hatte kein Spieler in dieser Saison einen größeren defensiven Impact als Gobert.
Es hat sich ja rumgesprochen, dass die Jazz seit der Rückkehr des Franzosen zu den besten Teams gehörten - aber vielleicht muss man das noch einmal anhand von Zahlen belegen: Vor den Playoffs haben die Jazz 17 der letzten 21 Spiele gewonnen, insgesamt 37 von 56 mit Gobert auf dem Court.
Und auch wenn die egalitäre Offense und Rookie-Sensation Donovan Mitchell (siehe unten) ihren Anteil daran hatten – der Erfolg der Jazz fußt auf ihrer Defense. Die Defensiv-Zahlen Utahs sehen aus, als hätten sie die Formel zerstört.
Steht der Franzose auf dem Court, haben die Jazz in dieser Saison ein Defensiv-Rating von 96,2, was der mit Abstand beste Wert der Liga wäre. Sitzt er, beträgt der Wert 105,0 – was immer noch akzeptabel ist, aber eben mittelmäßig. Seit seiner Rückkehr Mitte Januar steht das Defensiv-Rating sogar konstant bei 97,5.
Und natürlich haben die Jazz durch die Bank ziemlich gute Verteidiger. Gerade Jae Crowder ist seit seiner Ankunft in Salt Lake City Teil von nahezu allen herausragenden Lineups der Jazz. Aber Gobert ist der Schlüssel. Auch das Defensive Real Plus Minus von ESPN weist ihn als besten Verteidiger dieser Saison aus.
Der Stifle Tower ist, wenn fit, seit Jahren einer der besten beziehungsweise der beste Ringbeschützer der NBA. Das ist auch in dieser Saison der Fall – auch wenn Joel Embiid in der Hinsicht ebenfalls genannt werden muss. Goberts Timing ist nahezu perfekt und seine Präsenz wird gefürchtet, es ist statistisch kaum zu erfassen, wie viele Würfe er in jedem Spiel durch schieres „Dasein“ verändert.
Zumal er seine gute Position nicht dafür opfert, um Blocks zu jagen, wie es beispielsweise Hassan Whiteside gerne tut – Gobert steht einfach fast immer richtig. Er bietet die optimale Absicherung für die aggressiven On-Ball-Defender der Jazz.
Gobert ist übrigens auch offensiv viel besser als sein Ruf – mittlerweile darf man ihn mit Recht als Top-15-Spieler bezeichnen, mindestens. Für diesen Abschnitt zählt aber nur die folgende Aussage: Kein Spieler hat in dieser Saison so einen enormen defensiven Impact gehabt wie er.
Am richtigen Fleck
Victor Oladipo hatte diesen Award gewissermaßen schon nach wenigen Saisonwochen relativ sicher. Und er ist seitdem nicht schlechter geworden. Oladipo ist völlig verdient zum ersten Mal All-Star geworden und der wichtigste Spieler bei der größten positiven Überraschung der NBA. Sogar ein Spot in einem der All-NBA Teams ist für ihn nicht ausgeschlossen.
Wie bezeichnend sein Beispiel doch ist, um zu verdeutlichen, welchen Wert der Fit in der NBA hat: Da wurde ein Swingman einst an zweiter Stelle gepickt und doch nie wirklich von dem Team gefördert, das ihn so hoch draftete. Die Magic zwangen ihm etliche verschiedene, oft unpassende Rollen auf (Point Guard?) und blieben nie bei einem Stil, auch weil sie Coaches verschlissen wie der Hamburger SV und dazu in jedem Jahr mindestens einen Lottery-Pick dazuholten, der beim Skillset zumindest gewisse Überschneidungen mit Oladipo hatte.
Dann beendeten sie das Experiment nach bloß drei Jahren wieder, ohne ihrem wohl talentiertesten Spieler je so etwas wie einen vernünftigen Supporting Cast oder ein adäquates System an die Seite gestellt zu haben. Er wurde nach OKC geschickt, in einem Trade, der schon damals einigermaßen albern aus Sicht der Magic wirkte.
Bei den Thunder durfte Oladipo eine Saison lang die zweite Geige spielen – allerdings eine sehr entfernte zweite Geige in der MVP-Saison von Russell Westbrook. Es war erneut keine Rolle, die optimal zu ihm passte, eher stagnierte sein Spiel vergangene Saison etwas oder verkümmerte in einigen Aspekten sogar. Als er dann wiederum nach nur einer Saison nach Indiana getradet wurde, waren es diesmal die Pacers, die harsch kritisiert wurden, zumal er mit seinem 85-Millionen-Dollar-Vertrag als komplett überbezahlt galt.
Und jetzt? Jetzt wirkt dieser Deal nicht nur gerechtfertigt, sondern angesichts von eskalierenden Supermax-Verträgen eher wie ein Schnäppchen. Oladipo hat sich vor seiner fünften Saison körperlich und spielerisch komplett neu erfunden. Er ist fitter, effektiver und vielseitiger als jemals zuvor – ein legitimer Star in der Liga.
Den Pacers wurde vor dieser Saison ein Platz in den Niederungen der Eastern Conference zugetraut, stattdessen ging es bis wenige Spiele vor Schluss um den Heimvorteil und die Playoffs waren schon recht früh in der Saison sicher. Damit hätten selbst die größten Optimisten nicht gerechnet, auch wenn Pacers-Boss Kevin Pritchard Gerüchten zufolge immer noch jeden Tag Purzelbäume vor Freude schlägt, wenn einer der diversen Zweifler/Kritiker zugeben muss, dass der Gegenwert „Oladipo + Domantas Sabonis“ für den auslaufenden Vertrag von Paul George doch ziemlich gut war.
Oladipo wird diese großartige Saison in den kommenden Jahren bestätigen müssen, um dauerhaft als Superstar ernstgenommen zu werden. In dieser Saison war jedoch ganz klar er der Spieler, der den größten und wichtigsten Entwicklungssprung gemacht hat.
Lieber spät als nie
In vielen Saisons ist der Sixth Man-Award eine relativ belanglose Auszeichnung. Geehrt wird einfach der Spieler, der die meisten Punkte von der Bank erzielt, fast unabhängig davon, wie sich seine Leistungen auf die Team-Performance auswirken. Selten wird wirklich der beste von der Bank kommende Spieler geehrt, sonst hätte beispielsweise Andre Iguodala in den letzten Jahren mindestens einen dieser Awards bekommen. Auch Manu Ginobili hätte in seiner Karriere mehr als den einen Award im Jahr 2008 erhalten.
In diesem Jahr lässt sich beides aber ganz gut zusammenfassen. Denn Lou Williams ist der beste Scorer, der in der NBA in dieser Saison von der Bank kommt – bei weitem sogar. Sweet Lou erzielt über die Saison 22,2 Punkte im Schnitt und ist damit nicht nur mit Abstand der beste Bankscorer, er steht sogar auf Rang 14 ligaweit. Aber er ist eben nicht nur das.
Williams war im Jahr 2015 (damals bei den Raptors) schon einmal Sixth Man of the Year. Vergleicht man seine heutige Version jedoch mit damals, ist er in fast allen Aspekten ein besserer Spieler geworden. Nicht nur im Scoring hat Lou das beste Jahr seiner Karriere hinter sich, auch als Playmaker hat er riesengroße Fortschritte gemacht.
Wann immer er bei den Clippers von der Bank reinkam, zog er die Offense auf – aber eben nicht nur als Gunner, sondern als derjenige, der die (oft richtigen) Entscheidungen traf und alle anderen involvierte. Als Star. Mit Williams auf dem Court legten die Clippers über die Saison ein sehr gutes Offensiv-Rating von 110,6 auf, ohne ihn krachte es auf miese 101,7 herunter. Das ist grob gesagt der Unterschied zwischen der Offense der Cavs und der Offense der Kings.
In einer Saison voller Verletzungen und Trades waren Williams und DeAndre Jordan zudem die einzigen wirklich immer präsenten Leistungsträger. Dieses Team hat eigentlich keine klar definierte Identität und sollte nicht wirklich viel mit den Playoffs zu tun haben – die Clippers erfanden sich aber im Lauf der Saison immer wieder neu und weigerten sich, auseinanderzubrechen. Erst in den letzten Saisonwochen erlosch ihre Playoff-Chance.
Doc Rivers zeigte dabei seine vielleicht beste Coaching-Saison, aber auch er wäre verloren gewesen, wenn er nicht Williams und Jordan gehabt hätte, die beide auf (beinahe) All-Star-Niveau performt haben. Williams ist ein gutes Beispiel dafür, dass es eben nicht unbedingt zählt, wer ein Spiel eröffnet – sondern vielmehr, wer am Ende gefordert ist, wenn das Spiel entschieden wird.
Neuerfindung
Sind wir mal ehrlich: Wer hielt vor dieser Saison Dwane Casey für einen der besseren NBA-Coaches? Irgendjemand? Wohl nicht – selbst in Toronto wackelte sein Stuhl nach einer weiteren enttäuschenden Postseason. Man müsse einiges an der Spielweise ändern, hatte GM Masai Ujiri nach dem Sweep durch die Cavaliers gefordert.
Sonst ist Endstation, war die nicht wirklich subtile Botschaft in Richtung von Casey, der bei den Raptors ja auch immerhin schon sechs Saisons als Head Coach auf dem Buckel hatte. In dieser Zeit hatten die Raptors zwar auch ihre besten Saisons der Franchise-Geschichte gefeiert, aber es wirkte eben so, als hätten sie ihr Limit mit dem aktuellen Kern erreicht – zumindest dann, wenn man nicht ein paar grundlegende Änderungen durchführen würde. Jede Organisation braucht ja irgendwann auch mal frischen Wind.
Casey hat diese Herausforderung angenommen. Und man darf mittlerweile wohl mit Fug und Recht sagen: Er hat sie auch gemeistert. Die Raptors haben die beste Bilanz der Eastern Conference hingelegt, und das sogar ziemlich deutlich. Mehr noch als die nackte Bilanz beeindruckte aber die Art und Weise, wie sie das taten.
Toronto ist bisweilen nicht mehr wiederzuerkennen, wenn man die Spielweise mit den letzten Jahren vergleicht. Es wird viel weniger Iso-Ball gespielt, auch wenn Kyle Lowry und DeMar DeRozan natürlich immer noch die dominanten Spieler sind. Die beiden Star-Guards sind aber mittlerweile viel mehr Teil des Systems. Sie spielen den Ball schneller ab, weil sie einerseits darauf vertrauen, dass sie ihn wiederbekommen, und andererseits darauf, dass im anderen Fall ihre Teammates auch nicht unbedingt schlechte Entscheidungen damit treffen können.
Die Raptors sind mehr zum Team geworden. Der Ball wird mehr bewegt, es wird schneller abgedrückt – und die Wurfauswahl ist moderner. Die Raptors nehmen heutzutage die drittmeisten Dreier der Liga, nachdem sie im Jahr davor noch auf Platz 22 waren. Das ist eine beeindruckende Trendwende! Casey hat seinem Team ein neues System eingeimpft.
Auch personell hat der Coach einen großen Fortschritt gemacht. Casey ist mittlerweile besser darin, die Tiefen seines Kaders auszunutzen. Die Bank Torontos ist die beste der Liga, gerade die Kollegen Fred VanVleet, Jakob Pöltl und C.J. Miles haben fast schon alberne Plus/Minus-Werte. Casey schafft es in den allermeisten Fällen, die ideale Kombination zu finden, auch im Hinblick auf die Crunchtime von engen Spielen, wenn sich eigentlich mehr als fünf Spieler für sein Vertrauen empfohlen hätten.
Der Raptors-Coach war in diesem Jahr bei weitem nicht der einzige starke Kandidat. Brad Stevens coachte ein herausragendes Jahr, ebenso wie Quin Snyder, Terry Stotts oder Erik Spoelstra. Sehr gute Argumente gab es auch für Gregg Popovich – der vielleicht beste Coach der NBA-Geschichte meisterte eines der schwierigsten Jahre seiner Spurs-Zeit mal wieder – nun – meisterlich. Sollte Pop den Award zum vierten Mal in seiner Karriere erhalten, gäbe es von dieser Seite nicht den geringsten Einwand. Bei Stevens und Snyder auch nicht.
Und doch – Casey hat mich persönlich am meisten beeindruckt. Vielleicht deshalb, weil ich ihm diese Neuerfindung nicht so richtig zugetraut hätte. Nun muss sich zeigen, ob diese neue Klasse von Casey und seinem Team sich auch in den Playoffs behauptet.
Die unmögliche Entscheidung
Die schwerste Entscheidung kommt zum Schluss. Das Rennen zum Rookie des Jahres war eines der besten der jüngeren Vergangenheit – und mit allem Respekt in Richtung Jayson Tatum: Es war ein Zwei-Mann-Rennen. Ben Simmons und Donovan Mitchell waren zwei der besten Rookies der letzten Jahre. Schon in dieser Saison hätten beide All-Stars werden können. Wenn nichts Verrücktes dazwischenkommt, wird man sie in den nächsten Jahren noch sehr oft beim Spiel der Besten sehen.
Wie soll man sich also letztendlich für einen von beiden entscheiden? Es werden dabei mehrere Grundsätze auf die Probe gestellt. Ist Vielseitigkeit das Wichtigste? Closing? Superstar-Potenzial? Das beeindruckendste individuelle Spiel oder Konstanz über die gesamte Saison? „Historische“ (Unwort!) Zahlen? Es sind Fragen der Philosophie. Um es etwas übersichtlicher zu machen, habe ich die beiden in den folgenden Kategorien verglichen und den „Dr. Jack Breakdown“ a la Bill Simmons gemacht:
Scoring
Die erzielten Punkte sprechen klar für Mitchell, die Feldwurfquote favorisiert Simmons – der Australier ist ein sehr starker Finisher und hat dazu alle möglichen kuriosen Scoop Shots und Hakenwürfe im Repertoire. In der Zone ist Simmons nur schwer zu stoppen. Dazu muss man allerdings sagen: Nur in der Zone. Denn von weiter draußen versucht er es wenig bis gar nicht, er hat über die gesamte Saison tatsächlich nicht einen Dreier getroffen. Mitchell hingegen ist eine Bedrohung von überall auf dem Court. Er hat zwar mehr Streuung, aber er läuft auch leichter heiß als der Rookie der Sixers. Mitchell ist in seinem ersten Jahr bereits einer der explosiveren Guard-Scorer der Liga gewesen, auch wenn seine Effizienz noch besser werden muss. Simmons hat da noch einen weiteren Weg vor sich.
Vorteil: Mitchell.
Defense
Beide sind in dieser Kategorie ungewöhnlich weit für Rookies und gehören zwei der besten Defensiv-Teams der Liga an. Die Kategorie ist trotzdem ziemlich eindeutig. Denn wo Mitchell in Utah selten die besten Gegenspieler decken muss und ein grandioses Support-System um ihn herum hat, ist Simmons ein integraler Bestandteil der Sixers-Defense. Vielleicht ist er nach Embiid sogar schon ihr wichtigster Verteidiger. Seine enorme Vielseitigkeit, Länge und Athletik ist Gold wert – der ESPN-Statistik Defensive Real Plus Minus zufolge ist Simmons sogar der viertbeste Verteidiger ligaweit unter Point Guards. Da kann Mitchell nicht mithalten.
Vorteil: Simmons.
Playmaking
Auch hier fällt das Urteil eindeutig aus. Mitchell ist als Passer besser, als es vorm Draft erwartet wurde – die Entscheidungsfindung ist sehr gut für sein Alter. Simmons ist aber ein anderes Biest. Die Vergleiche mit LeBron James beziehen sich zuallererst auf seine absolut herausragenden Pass-Fähigkeiten. Es ist eine Wonne, ihm beim Passen zuzusehen – und man wünscht sich nur, dass der Wurf ein bisschen kommt, damit er künftig noch mehr Platz für seine Pässe bekommt.
Klarer Vorteil: Simmons.
Größte Schwäche
Wo wir schon dabei waren: Simmons ist in fast allen Facetten ein sehr kompletter Spieler. Beim Wurf aber ist er dafür absolut unterentwickelt. Nicht wenige Experten mutmaßen ja, dass er seine Wurfhand wechseln sollte, um die Probleme zu fixen – aber wie auch immer: Für den Moment ist der Wurf nicht zu gebrauchen, weder von der Dreierlinie, noch aus der Mitteldistanz oder (verlässlich) von der Freiwurflinie. Gerade letzteres ist ein großes Problem, weil es Simmons daran hindert, in der Crunchtime zu übernehmen. Nicht zuletzt deshalb sind die Sixers in der Schlussphase manchmal schwer anzuschauen. Zumindest das muss er schnellstmöglich in den Griff bekommen. Und wenn er sein (fast unbegrenztes) Potenzial realisieren will, muss er früher oder später zumindest ein bisschen die Range erweitern. Kein Perimeter-Player kann die heutige NBA dominieren (im Sinne von First-Team All-NBA, MVP-Kandidat…), wenn er ausschließlich in der Zone Gefahr für den gegnerischen Korb ausstrahlt. Das ist eine wesentlich größere Schwäche als die fehlende Länge von Mitchell, dem für die Position des Shooting Guards eigentlich ein paar Zentimeter fehlen.
Klarer Vorteil: Mitchell.
Superstar Potenzial
Starke Kategorie für beide Spieler. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass beide in den nächsten Jahren prägende Gesichter der NBA sein werden. Die „Decke“ für Simmons ist angesichts seiner Vielseitigkeit und Einzigartigkeit („Einhornigkeit“?) aber noch ein Stückchen höher. Sollte er sein Potenzial realisieren, könnte er eines Tages wirklich eine Art LeBron sein – eine viel höhere Decke gibt es nicht. Mitchell hingegen hat gute Karten, in die Fußstapfen von beispielsweise Dame Lillard zu treten, der ihm spielerisch (offensiv) von den aktuellen NBA-Stars wohl am meisten ähnelt. Aller Ehren wert!
Vorteil: Simmons.
Rolle im Team
Simmons ist bei den Sixers der zweitbeste Spieler – der wichtigste Playmaker, einer der wichtigsten Verteidiger und der drittbeste Scorer nach Embiid und J.J. Redick. Er ist absolut spiel- und stilprägend. Und dennoch ist Mitchell zumindest in dieser Saison noch ein kleines bisschen wichtiger für die Jazz gewesen. Utah kommt über das Kollektiv – aber auch sie brauchen jemanden, der am Ende des Spiels die Entscheidung herbeirufen kann. Das ist nicht Gobert, es ist in den meisten Fällen auch nicht Rubio oder Ingles, wenngleich sie zweifellos wichtige Würfe treffen können. Derjenige, der in dieser Saison ihr wichtigster Clutch-Player war, ist Mitchell – der Rookie hat in Clutch-Situationen eine Usage-Rate von über 40 Prozent. Und er macht viel daraus als Go-to-Guy.
Vorteil: Mitchell.
Fazit
Wer mitgezählt hat, wird feststellen: Beide Rookies haben jeweils drei Kategorien gewonnen. Für mich gibt es in dieser Frage keine falsche Antwort, auch wenn mir da sicher Fans aus beiden Lagern widersprechen werden. Es war ein knappes Rennen und beide hätten den Award verdient. Es gibt aber nun mal keine Co-ROTYs, also muss eine Entscheidung her – meine fällt auf Simmons. Ich glaube, dass er das Spiel einfach noch ein bisschen tiefer beeinflussen kann als Mitchell, und zwar auf mehr verschiedene Arten. Die historischen Zahlen und Triple-Doubles sind mir dabei gar nicht so wichtig, es begeistert mich vielmehr, wie Simmons das Spiel denken und lenken kann und wie souverän er auch defensiv auftritt.
Wer wird Champion? Die NBA-Playoffs live auf DAZN
Ja, das „Sabbat-Jahr“ in der NBA hat ihm sicherlich geholfen, zählt für mich aber nicht als Argument gegen ihn, zumal Mitchell ganze 49 Tage jünger ist als er. Simmons war der kompletteste Rookie, nicht nur in dieser Saison, sondern seit einer sehr langen Zeit. Dass jemand mit einer so großen Schwäche wie seinem Wurf trotzdem vom Start weg so aufdrehen kann, spricht umso mehr für all seine anderen Fähigkeiten und seine Intelligenz. Zumal er im Saisonverlauf sogar immer besser wurde - insbesondere in den letzten Saisonwochen zeigte er noch einmal auf beeindruckende Weise, dass er die Sixers auch ohne Embiid schon zu einem gefährlichen Team machen kann. Und wenn er den Wurf auf ein passables Niveau heben kann, wird sich die Eastern Conference sehr warm anziehen müssen. Vielleicht muss sie das jetzt schon.