Der Überflieger
Wie ein Junge aus der dänischen Provinz zum umworbenen Weltstar wurde
Christian Eriksen wurde im beschaulichen Middelfart geboren. Über Odense und Amsterdam führte sein Weg nach London. Er reifte zum Superstar der Premier League, entwickelte sich zum Hoffnungsträger einer ganzen Nation.
Goal und SPOX haben mit Eriksens früheren Trainern Morten Olsen, Martin Jol und Glen Riddersholm gesprochen, mit Mario Götze, den Eriksen beinahe bei Borussia Dortmund ersetzt hätte, und mit seinen ehemaligen Mitspielern Urby Emanuelson sowie Lesly de Sa.
Es ist die Geschichte eines bescheidenen, früher geradezu schüchternen Jungen, eines frühreifen Ausnahmetalents, das wohlüberlegte und überraschend rationale Entscheidungen traf, den Wechsel zu einem Top-Klub wie dem FC Chelsea ablehnte und stattdessen seinen eigenen Weg ging.
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Der Anstoß
Vor dem schmalen, blonden Teenager geht ein gelber Konfettiregen nieder, die Fans auf der steil aufragenden Kurve des Gastgebers brüllen ihm lauten Gesang entgegen. Christian Eriksen blickt kurz nach oben, zu den Singenden, deren Papierschnipsel geräuschlos auf die Einlaufenden niederregnen, nimmt dann seinen Platz zwischen Rasmus Lindgren und Kennedy ein, die Augen geradeaus gerichtet. Er bleibt äußerlich cool. Trotz des lauten Empfangs der Breda-Fans und obwohl er in wenigen Minuten sein erstes Spiel als Fußballprofi bestreiten wird.
Erst am Vortag hatte er erfahren, dass sein Trainer Martin Jol mit dem Gedanken spielt, ihn starten zu lassen. Und trotzdem war er überrascht, seinen Namen auf der Taktiktafel von Ajax Amsterdam zu lesen. "Christian war erst 17, aber schon so gut, dass ich dachte, es wäre falsch, ihn nicht aufzustellen," erinnert sich Jol.
"Es war, als hätte Christian keine Emotionen. Er guckte mich an und sagte: 'Okay, dann spiele ich eben.' Normalerweise machen sich Jungs in diesem Alter einen Kopf, aber so war Christian nicht."
Es geht zum Handshake mit dem Gegner, Schiedsrichter Kevin Blom und dessen Assistenten. Die Fans singen weiter, so laut, dass Eriksen später sagt, von der Wucht beeindruckt gewesen zu sein. Kurz vor dem Anstoß im fast ausverkaufen Rat Verlegh Stadion wird der Debütant von Kapitän Luis Suarez, heute Superstar beim FC Barcelona, in den Arm genommen. Der Uruguayer, damals mit langen Haaren und der Nummer 16 auf dem Rücken, flüstert ihm etwas ins Ohr, spricht ihm Mut zu.
Eriksen nickt eifrig und läutet wenig später mit seinem ersten Ballkontakt das erste Eredivisie-Spiel seines Lebens ein – und gleichzeitig die steile Karriere eines Hochbegabten. Eines Jahrhunderttalents, das als Spielmacher die kommenden Jahre prägen sollte. Erst in Amsterdam, dann in London bei Tottenham Hotspur. Goal und SPOX haben mit ehemaligen Weggefährten gesprochen und zeichnen den Pfad nach, der Eriksen vom kleinen Middelfart in Dänemark bis in die Notizbücher der versammelten Fußballelite führte.
Die Wurzeln
Ein Kleinkind mit weißen Söckchen und weißem T-Shirt blickt mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen in die Kamera. "Meine Geschichte begann in Middelfart", schreibt Christian Eriksen im Juli 2016 auf Instagram, "wo ich davon träumte, Fußballprofi zu werden. Jetzt lebe ich meinen Traum." Der Junge auf dem Bild ist er selbst. Middelfart der Ort, an dem alles anfing.
Middelfart liegt im Süden Dänemarks auf der Insel Fünen. Im Mittelalter war Middelfart wegen seiner Lage ein national bedeutsamer Hafen, heute gehört der 15.000-Einwohner-Ort nicht einmal zu den 20 größten Gemeinden der Region Syddanmark. Was beschaulich klingt, ist es auch. Es gibt einen Wildpark, ein Keramikmuseum, ein Theater, ein Kulturzentrum, einen kleinen Hafen und eine 1.700 Meter lange Autobahnbrücke. Und es gibt viele Fußballplätze.
Auf insgesamt acht Feldern trainieren die Herrenmannschaft und der Nachwuchs des Middelfart G&BK. 600 Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 17 Jahren sind beim Verein aktiv, dessen Herren in der 3. dänischen Liga spielen. Die vielen Quadratmeter Grün, die Cafeteria und das Klubhaus nannte Eriksen zehn Jahre lang sein Zuhause. Hier wuchs er vom Kindergartenkind zum Teenager heran, hier lernte er all die Grundlagen, die ihn später zu einem der besten Spielmacher seiner Generation machen sollten.
Das Haus der Eriksens liegt nur einen Steinwurf vom Klubgelände entfernt, noch heute wohnen Christians Eltern Thomas und Dorthe dort. Christian kommt so oft wie möglich nach Hause, trifft Freunde von früher.
Bereits im Alter von drei Jahren begann er mit dem Fußballspielen, zunächst im elterlichen Garten. "Fußball war in meiner Familie immer eine große Sache", erzählt Eriksen. Seine kleine Schwester spielte ebenso Fußball wie beide Elternteile. Der Vater, Verkaufsleiter in einem Autogeschäft, sogar so gut, dass er fast selbst Profi geworden wäre.
"Von Anfang an", sagt Eriksen, "habe ich immer nur Fußball gespielt. Ich habe kurz Badminton gespielt und sogar ein Turnier gewonnen, aber es ging eigentlich immer nur um Fußball."
Schon sehr früh zeigte sich, dass Eriksen etwas Besonderes hat. "Der Junge unseres Nachbarn war ungefähr drei Jahre älter. Eines Tages spielte er mit ein paar Freunden Fußball", erinnert sich Vater Thomas im Gespräch mit der Jyllands-Posten. "Christian lief rüber und spielte mit. Wir sahen, dass er genau so gut war wie die drei Jahre Älteren."
Der Ball war sein bester Freund. Und das buchstäblich. "Er hat mit dem Ball im Bett geschlafen. Bis er zehn war, war der Ball sein Kuscheltier", sagt Eriksen Senior über seinen Fußball-verrückten Filius. Eriksens Vater war es auch, der den noch heute zentralen Gedanken in Eriksens fußballerischer DNA implementierte: Das Wir steht immer vor dem Ich. "Sein Vater trainierte ihn als Kind und gab ihm mit, dass ein einzelner Spieler im Fußball nichts wert ist. Das lebt Christian bis heute", sagt Glenn Riddersholm, der Eriksen in der dänischen U17 trainierte.
Thomas war Trainer einer äußerst talentierten Truppe um seinen Sohn. Bei einem Turnier im Jahr 2004 mit den besten Klubs des Landes wurde Middelfart in der U12 Fünfter. In vier von fünf Saisons blieb das Team in der lokalen Meisterschaft der Insel Fünen ohne Niederlage. "Wir haben versucht, ihnen beizubringen, dass es gut ist, den Ball zu haben und etwas damit zu machen", sagt Thomas Eriksen im Guardian. "Wir haben vorwärts gespielt, nicht rückwärts." Sein Vater war es auch, der mit ihm im Auto die Fehler besprach – und seinen Sohn so zur Weißglut bringen konnte.
Damals immer an der Seite Eriksens: Rasmus Falk, der heute beim FC Kopenhagen unter Vertrag steht, und den Eriksen kennt, seit er fünf Jahre alt ist. Einmal lag Middelfart zur Halbzeit mit 0:4 zurück, nichts klappte. Tonny Hermansen, damals nach Vater Thomas Trainer der Truppe, erinnert sich daran, wie sein kongeniales Duo aufdrehte:
"Christian und Rasmus schnappten sich einfach den Ball, zack, zack, zack, kombinierten sich durch, trafen und begannen wieder von vorne."
Der kleine Christian liebte es zu dribbeln, bereitete unzählige Tore vor und eiferte im Garten seinen Kindheitsidolen Francesco Totti sowie den Laudrup-Brüdern Brian und Michael nach.
Noch heute ist Eriksen in Middelfart allgegenwärtig. Seine Trikots zieren das Klubhaus und die Kids von heute wollen es machen wie er: In Middelfart von der Fußballkarriere träumen – und den Traum eines Tages wahrmachen. "Der Name Middelfart bedeutet heute etwas", sagt Claus Hansen, Präsident vom FK, im Guardian. "Die Kids denken: 'Christian Eriksen ist aus Middelfart – ich will auch bei Middelfart spielen.'"
Nach zehn Jahren war es für Eriksen an der Zeit, das Nest zu verlassen und weiterzuziehen. 13 Jahre alt war er da. Eriksen wechselte zu Odense BK, auch um seiner Heimat weiter so nah wie möglich zu sein – und reifte dort endgültig vom talentierten C-Jugend-Kicker zum dänischen Jahrhunderttalent, gejagt von den Top-Klubs, beobachtet von Millionen.
Das Jahrhunderttalent
In seiner 24-jährigen Trainerkarriere erlebte Glen Riddersholm nur einen Spieler, den er nicht einmal kritisieren musste. "Das muss man sich vor Augen halten: Er war 17 und doch so bestrebt, sich weiterzuentwickeln, dass ich ihn mir nicht einmal zur Brust nehmen musste", erinnert sich der heute 46-Jährige, der den dänischen Erstligisten Sönderjysk trainiert: "Das habe ich bei keinem anderen Spieler erlebt."
Riddersholm war Eriksens Trainer in der dänischen U17 und erinnert sich noch gut an die Zeit, als aus Christian Eriksen, dem Middelfarter Jungen, Christian Eriksen, das Megatalent, wurde. "Ich wusste, dass es da diesen Jungen gab, der so gut war, dass einfach alle über ihn sprachen", blickt er zurück. "Als ich dann sein Trainer wurde, sah ich, dass all das Lob keine Übertreibung war. Er sah Dinge, die andere nicht sahen. Er ist mit Abstand der beste Spieler, den ich je trainiert habe. Und ich habe viele großartige Talente gesehen."
Egal, mit wem man über den jungen Eriksen spricht, alle sind sich einig: So einen Spieler hatten sie nie zuvor erlebt. "Er ist definitiv einer der talentiertesten Spieler, die ich je gesehen habe", sagt Urby Emanuelson, der mit Eriksen später bei Ajax zusammenspielte. Und auch Martin Jol, unter dem Eriksen in Amsterdam bei den Profis debütierte, ist sich sicher: "In diesem Alter war er der talentierteste Spieler, den ich je gesehen habe. Ich hatte natürlich bei Tottenham sehr talentierte, auch beim HSV. Aber so gut wie er? Nein."
In Odense, 45 Kilometer östlich von Middelfart liegend, geht Eriksen seinen Weg konsequent weiter. So, wie er ihn auch später immer konsequent weitergehen sollte. Das Zentrum dieser Zielstrebigkeit, die Eriksen schon in jungen Jahren verfolgte, war eine innere Ruhe, wie Riddersholm erzählt. "Christian hatte immer diese ganz besondere Bodenständigkeit. Andere gaben in der Kabine an, suchten Anerkennung. Christian sah sich dagegen nie als etwas Besonderes. In der Jugend, als alle um ihn herum von ihm schwärmten, blieb er ganz ruhig, arbeitete hart und war immer selbstkritisch."
Dass er diese ganz besonderen Fähigkeiten in sich hatte, wusste er trotz aller Bescheidenheit ganz genau. Einmal fragte Riddersholm ihn in der Kabine, ob er denn wisse, wie gut er sei.
"Er schaute mir in die Augen und sagte, als sei es das Normalste der Welt: 'Ja, Trainer, das weiß ich.' Der große Unterschied zu so vielen anderen Jugendlichen: Anstatt abzuheben machte er nie eine große Sache daraus. Es war für ihn einfach normal."
Vorangegangen sei er schon damals, in der dänischen U17. Niemals neben, dafür umso mehr auf dem Platz. "Christian war ein sehr ruhiger Junge, nicht schüchtern, aber introvertiert", sagt Riddersholm, dem man anmerkt, wie gerne er sich an Eriksen erinnert. "Lautsprecher in der Kabine waren immer andere – und doch war er ein Anführer, weil er auf dem Platz voranging. Er tat Dinge, die in ihrer Einfachheit spektakulär waren."
Einmal nahm Dänemark an einem Nachwuchsturnier teil. Eriksen verschoss früh in einem wichtigen Spiel einen Elfmeter. "Er ließ nicht eine Sekunde den Kopf hängen, sondern übernahm sofort die Verantwortung für das Spiel und führte uns mit einem Doppelpack zu einem 3:1-Sieg", erinnert sich Riddersholm. "An diesem Spiel sah man, wie frühreif er war. Wie weit er damals nicht nur spielerisch, sondern auch mental war."
2006 gewann Eriksen mit Odense und an der Seite seines Kumpels Rasmus Falk, den BK mit ihm im Doppelpack verpflichtet hatte, die nationale U16-Meisterschaft – und zog auch dadurch Aufmerksamkeit auf sich, war bald weit über die dänischen Grenzen hinaus Hunderten Scouts ein Begriff.
Sie kamen, um ihn spielen zu sehen, und sahen, wie dieser junge, noch immer schlaksige Spielmacher, Traumpass um Traumpass spielte, Freistoß um Freistoß versenkte. Noch heute wird vom dänischen Fußballverband in Seminaren ein Video gezeigt, in dem Eriksen im Training Freistöße schießt.
Nach nur drei Jahren bei Odense stand Eriksen die Welt offen, er hatte Angebote von diversen Top-Klubs. Allen war klar, dass das Jahrhunderttalent das Land verlassen – und sich aufmachen würde, Geschichte zu schreiben.
Die freie Wahl
Bei Ajax Amsterdam folgen sie klaren Regeln. Dazu zählt unter anderem, dass Jugendspieler ein Probetraining in der niederländischen Hauptstadt absolvieren müssen, bevor sie für eine Verpflichtung infrage kommen. Es gibt aber auch Ausnahmen. Ausnahmen wie Christian Eriksen.
Nachdem Ajax sein Interesse bei Eriksens Vater Thomas sowie bei Eriksens damaligem Verein Odense BK hinterlegt und um ein Probetraining gebeten hatte, fasste Eriksen Senior einen Entschluss. Er lehnte ab.
"Christian war schon an so vielen Orten und spielte zusätzlich für die U-17-Nationalmannschaft. Außerdem musste er ja auch noch zur Schule gehen", sagt Thomas Eriksen im Gespräch mit der Jyllands-Posten.
Eine Entscheidung, die den weiteren Verlauf von Eriksens Karriere entscheidend hätte prägen können. Dass es nicht so kommen sollte, hing vor allem mit einem Mann zusammen: mit John Steen Olsen.
Olsen, einst selbst Profi und dänischer Nationalspieler, arbeitet seit 1995 als Scout für Ajax, spezialisiert auf die Talent-Akquise in Skandinavien. Er fädelte 2001 federführend den Transfer von Zlatan Ibrahimovic ein und hat einen besonderen Blick für junge, aufstrebende Talente.
Der heute 76-Jährige war so sehr von Eriksen begeistert, dass er Sportdirektor Danny Blind überreden konnte, mit ihm nach Dänemark zu fliegen, Eriksen und dessen Familie von einem Wechsel zu überzeugen und schließlich doch zu verpflichten. Ohne vorheriges Probetraining in Amsterdam. Ohne eine weitere, strapaziöse Reise für den Teenager.
Nachdem Eriksen 2005 von Middelfart in die Jugendabteilung des dänischen Erstligisten Odense gewechselt war, zog er schnell das Interesse europäischer Top-Klubs auf sich. Es gab Zeiten, in denen sich beinahe täglich neue Interessenten meldeten, darunter neben Ajax ganz konkret der FC Barcelona, der FC Chelsea und der AC Mailand.
"Mein Kumpel Rasmus Falk und ich waren zum Probetraining bei Chelsea", erinnert sich Eriksen: "Ich habe drei Spiele für die U18 gemacht, gegen Millwall, gegen West Ham und gegen einen Klub, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Wir haben mit den Profis gemeinsam gegessen und Jose Mourinho oder Didier Drogba liefen durch die Gegend. Aber für mich als Mensch wäre der Schritt zu groß gewesen."
Eriksen war ebenso überrascht wie irritiert ob der Professionalität auf dem Gelände der Blues. "Das war erstmal ein Schock. Man hat gemerkt, dass alles hinter geschlossenen Türen stattfindet", blickt er zurück: "Wo ich herkomme, war alles frei zugänglich, da konnte jeder das Trainingsgelände betreten und machen, was er wollte. Bei Chelsea gab es zwei Tore, 24 Stunden am Tag von Security-Mitarbeitern bewacht. Da habe ich gesehen, wie groß der Klub ist. Das ließ mich davon Abstand nehmen. Ich war ja nur ein ruhiger Junge aus Middelfart, der so etwas nicht kannte."
Ein Probetraining absolvierte Eriksen auch in Katalonien, fünf Tage verbrachte er bei Barca. "Dort haben wir eine Partie gegen die katalanische Nationalmannschaft gespielt und ich habe den Ball in 90 Minuten vielleicht dreimal berührt", erzählt Eriksen.
"Ich bin umher gerannt, habe den Ball gefordert, 90 Minuten lang, aber ich habe ihn nicht bekommen. Ich habe keine Ahnung, was genau los war. Die Trainingseinheiten liefen gut, aber in diesem Spiel dachte ich mir: ‘Ich werde hier keinen Ball bekommen.‘ Vielleicht lag es daran, dass all die Jungs Spanisch sprachen." Letztlich ein prägendes Erlebnis für den jungen Eriksen.
Ein drittes Probetraining absolvierte er in Italien, bei jenem Klub, für den sein Idol Brian Laudrup einst spielte.
"Wir waren eine Woche beim AC Mailand, als Christian gerade 16 Jahre alt war", erzählt Papa Thomas: "Es war wirklich schön, sie hatten ein hübsches Trainingsgelände und gute Trainer. Wir haben mit den Jugendtrainern gesprochen, die Christian auch unter Vertrag nehmen wollten, aber Odense forderte eine zu hohe Ablöse für ihn."
Vater und Sohn hätten einem Wechsel wohl zugestimmt, erzählt Thomas, aber zu konkreten Gesprächen zwischen Spieler und Verein kam es erst gar nicht. Während andere Jugendliche womöglich enttäuscht gewesen wären, trug Eriksen den geplatzten Wechsel mit Fassung. Mehr noch. Er machte einfach weiter.
Sein damaliger Trainer Anders Skjoldemose erzählt im Gespräch mit dem Guardian:
"Als er wieder zurück war, fragten die Jungs ihn in der Kabine: 'Wie war es denn in Mailand?' Christian antwortete nur: 'Es war okay. Seid Ihr jetzt bereit fürs Training?' Andere Kinder hätten auf Wolke sieben geschwebt."
Thomas Eriksen bestätigt: "Es hat ihm genauso Spaß gemacht, am nächsten Tag wieder bei Odense zu trainieren. Das ist seine mentale Stärke. Es hat ihn allgemein nicht berührt, dass diese großen Vereine an ihm interessiert waren."
Ebenjene Gelassenheit mündete kurze Zeit später im Wechsel zu Ajax Amsterdam. In jenem Wechsel, der sich als goldrichtig entpuppen sollte.
Die Reifeprüfung
Hinterher ist die Enttäuschung groß, das Spiel in Breda endet 1:1. Zu wenig für die Ansprüche von Ajax Amsterdam. Der Rückstand auf Tabellenführer PSV Eindhoven beträgt bereits neun Punkte. Und doch ist da dieser eine Lichtblick namens Christian Eriksen.
"Er spielte wie ein 25-Jähriger. Wenn man so jung ist, will man den Ball halten und keine Fehler machen. Aber Christian hat nie so gespielt, er hat immer das Risiko gesucht", sagt Jol über sein damaliges Kronjuwel, das nach seinem Debüt von der Presse mit Lob überhäuft wird. Einige Journalisten sehen in ihm gar den neuen Wesley Sneijder, den Nachfolger des Regisseurs, der Ajax 2009 in Richtung Real Madrid verlassen hatte.
"Was ich nie vergessen werde", erinnert sich Jol, "ist sein Lächeln. Christian war niemand, der viel und laut gelacht hat. Nein, er hat gelächelt. Und wenn er gelächelt hat, wusstest du: Jetzt ist er glücklich. Das war typisch Christian. Wenn er gut gespielt hatte, dann war da nach dem Spiel immer dieses Lächeln."
Jol muss es wissen. Er kennt dieses Lächeln nur zu gut. Nachdem er Eriksen zu den Profis hochgezogen und ihm an jenem kalten Januartag zu seiner Premiere verholfen hatte, blieb Ajax weitere 23 Ligaspiele in Serie ungeschlagen, 18-mal stand Eriksen dabei auf dem Feld.
Und doch waren es ungewohnte Zeiten für Ajax. Seit 2004 wartete der Klub auf den Gewinn der Meisterschaft. Im Kader standen Jan Vertonghen und Toby Alderweireld, die heutigen Star-Verteidiger von Tottenham Hotspur, dazu die langjährigen Barca-Spieler Oleguer und Gabi sowie der zwischenzeitlich bei Manchester United aktive und inzwischen zurückgekehrte Danny Blind. Dann waren da noch Luis Suarez, heute die wahrscheinlich beste Nummer 9 der Welt, Marko Pantelic, Maarten Stekelenburg, Urby Emanuelson und Gregory van der Wiel. Es war eine Ansammlung von Spielern, die in ihrer Karriere bereits auf Top-Niveau gespielt hatten oder das noch tun sollten.
"Wir hatten damals eigentlich keinen Zehner, haben in einem 4-3-3-System mit einem Sechser und zwei Achtern gespielt. Ich wollte aber einen Zehner", erinnert sich Jol. Der Coach probierte deshalb zunächst Siem de Jong auf der Spielmacher-Position aus, gänzlich zufrieden war er aber nicht. "Er war gut, aber Christian war einmalig", sagt er.
Eriksen sei schon im zarten Alter von 17 Jahren so stark gewesen, dass Jol schlicht keine andere Wahl gehabt habe, als den Youngster aufzubieten, erzählt er.
"Jetzt hat Ajax Frenkie de Jong, der vielleicht eine ähnlich große Karriere vor sich hat. Aber Christian war wahrscheinlich das größte Talent der vergangenen 15 bis 20 Jahre."
Was Jol nicht erzählt: Nach seiner Premiere stand Eriksen zwar in 14 der verbleibenden 16 Saisonspiele auf dem Rasen, allerdings nur viermal von Beginn an. Ajax gewann nach Eriksens Debüt 15 von 17 Ligaspielen (zwei Unentschieden), am Saisonende reichte es aber wieder nicht zum Titel. Ein Punkt fehlte auf Twente Enschede.
In der Hinrunde der darauffolgenden Saison ließ Ajax erneut wichtige Punkte liegen, gewann nur zehn von 17 Partien. Eriksen spielte in dieser Phase lediglich eine Nebenrolle, stand nur viermal in der Startelf. Ajax beendete die Hinrunde auf Rang vier – hinter der PSV Eindhoven, Twente und Groningen. Jol musste in der Folge seinen Platz räumen und übergab an U19-Trainer Frank de Boer. Erst dann sollte sich das Blatt wenden. Für Ajax Amsterdam. Und für Christian Eriksen.
De Boer übernahm am 6. Dezember das Traineramt, zwei Tage vor dem Spiel, das alles verändern sollte.
Die angeknockte Ajax-Truppe war im ausverkauften San Siro beim AC Mailand zu Gast. Flutlicht, Champions-League-Hymne, Gänsehaut-Atmosphäre. Und all die großen Namen.
Ronaldinho, Robinho, Andrea Pirlo, Clarence Seedorf, Thiago Silva, Massimo Ambrosini und Mathieu Flamini standen bei den Italienern in der Startelf, Zlatan Ibrahimovic und Kevin-Prince Boateng wurden im Laufe des Spiels eingewechselt. Auf der anderen Seite erstmals in der Königsklasse von Beginn an mit dabei: Christian Eriksen, 18 Jahre jung.
Eriksen gelang nicht alles, aber er spielte dermaßen selbstbewusst, als wäre er schon ewig dabei. Immer wieder probierte es der junge Däne aus der Distanz. Mit rechts, mit links, nochmal mit rechts. Am Ende war Eriksen laufstärkster Spieler und hatte nach Suarez die meisten Schüsse aller Akteure abgegeben, den gefährlichsten lenkte Milan-Keeper Marco Amelia gerade noch so über die Latte. Ajax gewann die Partie durch Tore von Demy de Zeeuw und Alderweireld mit 2:0 und Christian Eriksen, der 93 Prozent seiner Pässe zum Mitspieler brachte, war endgültig angekommen auf der großen Bühne. Fortan spielte Eriksen immer.
Unter de Boer, der Eriksen bereits aus der U19 kannte, stand der Däne in allen verbleibenden Ligaspielen der Saison 2010/11 in der Startelf, 15 von 17-mal über die kompletten 90 Minuten. Eriksen war mitentscheidend dafür, dass Ajax den Winterabgang von Suarez zum FC Liverpool kompensierte – und schließlich endlich wieder Meister wurde. "Es war der erste Titel seit sieben Jahren. Da hat man gesehen, wie viel das allen im Verein bedeutete. Das war eine ganz große Sache", erinnert sich Eriksen.
In den folgenden beiden Spielzeiten sollten zwei weitere Meisterschaften folgen. Meisterschaften, an denen Eriksen maßgeblichen Anteil hatte. In seinen letzten beiden Saisons bei Ajax war er mit 30 Assists nach Dries Mertens (31, Daten von Opta) bester Vorlagengeber der Eredivisie. Er spielte in diesem Zeitraum mit Abstand die meisten erfolgreichen Pässe aller Akteure und bereitete die meisten Treffer nach ruhenden Bällen vor (zehn).
Emanuelson, fünfeinhalb Jahre älter als Eriksen und damals unumstrittener Stammspieler bei Ajax, erinnert sich: "Nachdem mit Rafael van der Vaart und Wesley Sneijder in den Jahren zuvor zwei großartige Spielmacher den Verein verlassen haben, füllte er die entstandene Lücke schnell mit seiner Kreativität."
Es ist vor allem die Leichtigkeit in Eriksens Spiel, die ihn vor anderen abhebt. "Er spielte, als ob er am Strand oder im Park wäre, ohne Nerven, als gäbe es keinen Druck", schwärmt Jol. "Er ist immer in Bewegung. Er denkt schnell und scheint Augen in seinem Rücken zu haben. Wenn du denkst, er könne dich nicht sehen, sieht er dich trotzdem", sagt De Boer. Eriksens früherer Mitspieler Lesly de Sa erinnert sich: "Der größte Unterschied zu vielen anderen war, dass er sein Spiel nicht verändert hat, nachdem er den Schritt aus der Jugend zu den Profis gemacht hat. Er hat sein Ding einfach durchgezogen, obwohl er auf einmal in einem Stadion mit zigtausend Zuschauern aufgelaufen ist. Das spricht für seine Mentalität. Dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und dieser Mut haben ihn von anderen unterschieden."
Eriksen war schon in jungem Alter nahezu komplett, hatte das Gefühl für die richtigen Räume, konnte besser passen, schießen und dirigieren als seine Mannschaftskollegen. "Er war brillant. Seine Bewegungen, seine Pässe, seine Technik, all das war richtig gut. Aber sein Schuss, mein Gott, der war herausragend. Er war schon damals beidfüßig. Und sobald man ihm etwas Platz gelassen hat, hat er das ausgenutzt. Er konnte ein Spiel mit einer Aktion entscheiden", sagt de Sa.
Auch abseits des Platzes akklimatisiert sich Eriksen schnell. "Nach wenigen Monaten konnte er fließend Niederländisch und dadurch besser kommunizieren“, erzählt de Sa. Emanuelson ergänzt: "Eriksen hat auch mal Späße gemacht, aber er wusste er immer, wann die richtige Zeit dafür ist." Jol sagt: "Es ging ihm immer nur um Fußball, Fußball, Fußball. Man musste ihm nie sagen, was er zu tun hatte. Natürlich hatten wir fixe Trainingspläne, auch für den Kraftraum. Aber Christian hatte auch immer seine eigenen Ziele. Er hat Extraschichten gemacht, seinen Schuss trainiert, Freistöße trainiert. Er hat immer mehr gemacht und wusste genau, was er will."
In seiner letzten Saison bei Ajax war Eriksen in 33 Ligaspielen an 24 Toren direkt beteiligt (zehn Treffer, 14 Vorlagen). Zudem sammelte er in der Champions-League-Gruppenphase in sechs Spielen fünf weitere Scorerpunkte (ein Tor, vier Vorlagen), führte Ajax dabei gegen Manchester City zum Sieg.
Sofern es noch einen letzten Beweis gebraucht hatte, dass Eriksen bereit ist für größere Aufgaben, war dieser damit geliefert.
Die Beinahe-Thronfolge
In Dortmund konnten sie immer noch nicht ganz fassen, was eigentlich am Vorabend passiert war, da ging für Jürgen Klopp plötzlich die Welt unter.
Es war nur wenige Stunden her, dass Marco Reus und Felipe Santana den BVB am 9. April 2013 mit ihren Toren in der Nachspielzeit gegen den FC Malaga in letzter Sekunde ins Halbfinale der Champions League geschossen hatten, als Klopp die Nachricht erhielt, die ihn kurzzeitig ziemlich aus der Bahn werfen sollte. Mario Götze, sein wahrscheinlich talentiertester Spieler, wird von seiner Ausstiegsklausel Gebrauch machen – und ausgerechnet zum FC Bayern wechseln.
"Ich habe damit überhaupt nicht gerechnet. Michael Zorc sagte am Trainingsgelände zu mir: 'Wir müssen kurz reden. Mario geht zu Bayern.' Ich habe mich umgedreht, bin aus dem Büro gegangen, nach Hause gefahren und habe mich ins Bett gelegt", erinnert sich Klopp im Gespräch mit DAZN.
"Wir hatten am Abend eine Filmpremiere von Wotan Wilke Möhring. Meine Frau war schon fertig gemacht und stand da, um loszugehen. Ich meinte nur: 'Heute Abend geht gar nichts.' Es ist nur Fußball, aber der Zeitpunkt hat mich wirklich getroffen. Nach dem Highflyer gegen Malaga und der Qualifikation für das Halbfinale der Champions League so einen maximalen Schlag abzubekommen, darauf war ich nicht vorbereitet. Und das musste ich erst mal setzen lassen."
Noch am selben Tag begannen beim BVB auf dem Trainingsgelände in Brackel die Überlegungen, wie sie ihr Eigengewächs, das Jahrhunderttalent, ersetzen sollten. In den folgenden Wochen wurde bei Borussia Dortmund vor allem über drei Spieler intensiv diskutiert. Über Henrikh Mkhitaryan. Über Kevin De Bruyne. Und über Christian Eriksen.
Letzteren konnten sich Klopp, Klubboss Hans-Joachim Watzke und Sportdirektor Michael Zorc gleich zweimal aus der Nähe ansehen. Der BVB hatte in der Gruppenphase der Saison 2012/13 zweimal gegen Ajax Amsterdam gespielt. Er hatte beide Spiele gewonnen, und trotzdem hatten die Verantwortlichen gesehen, dass auf der anderen Seite ein junger Mann mit herausragenden Fähigkeiten die Fäden im Mittelfeld zieht, der große Ähnlichkeiten zu Mario Götze aufweist.
Eriksen, wie Götze Jahrgang 1992, überzeugte mit technischer Brillanz, mit gutem Auge, präzisem Passspiel und flinken Bewegungen. "Da gibt es schon Parallelen. Die Position, die er einnimmt, die Art und Weise, wie er spielt, die Räume, die er sieht, die Scorerpunkte, die er sammelt. Er ist ein extrem wichtiger Spieler für Tottenham. Das sieht man auch daran, wie kontinuierlich er seine Leistungen abruft. Natürlich sehe ich aufgrund seiner Spielweise und seiner Erfolge gewisse Ähnlichkeiten zu mir", sagt Götze über Eriksen, der tatsächlich auf dem Markt war, als es 2013 darum ging, Götze zu ersetzen.
Klopp hatte sich zwar bei Ajax-Trainer Frank de Boer persönlich nach Eriksen erkundigt, beim BVB waren sie allerdings nicht vollends überzeugt, ob Eriksen der richtige Spieler für den Klopp’schen Heavy-Metal-Fußball ist. Zweifel soll es vor allem an Eriksens Qualitäten im Spiel gegen den Ball, im Pressing und im Gegenpressing gegeben haben. "Eine völlig unbegründete Kritik. Christian ist als Spieler so clever, dass er, ähnlich wie ihrerzeit Xavi und Iniesta intuitiv Räume zuläuft, die andere offen lassen. Er steht immer richtig zum Ball, kann gerade in der Defensive die offensiven Spielzüge des Gegners besser vorausahnen als die meisten anderen", sagt Glen Riddersholm.
Letztlich waren da aber eben noch zwei weitere hochinteressante Kandidaten, von denen das Dortmunder Führungstrio Mkhitaryan präferierte.
Eriksen selbst liebäugelte derweil bereits mit einem Wechsel zu den Schwarz-Gelben, erklärte auf den Meisterschaftsfeierlichkeiten von Ajax Amsterdam im Mai 2013, dass er schon Lust hätte, etwas Neues auszuprobieren, sollte ein passendes Angebot kommen.
Borussia Dortmund "wäre nicht schlecht", antwortete Eriksen, als er auf den BVB angesprochen wurde: "Wir haben zwei Mal gegen sie gespielt und zwei Mal verloren. Das wäre ein toller Verein." Wenige Tage später sagte er im Gespräch mit NUSport: "Dortmund ist ein Verein, bei dem ich gerne spielen würde. Ich denke, dass ich gut dorthin passen würde. Sie spielen offensiven, schönen Fußball, so wie ich das auch gerne möchte. Und sie spielen um Titel."
Zudem verriet Eriksen, dass Ajax und Dortmund bereits mit seinem Berater zusammengesessen und über das Interesse gesprochen hätten. Es deutete viel hin auf einen Wechsel zum BVB, der aber nicht zustande kommen sollte. Weil sich der BVB nicht genug bemüht hatte, denn ansonsten – so sagt man im Umfeld des Klubs – hätten die Schwarz-Gelben gute Chancen gehabt, den Zuschlag zu bekommen.
Der König von Dänemark
Und plötzlich schaut ganz Dänemark auf seine Nummer 10. Im Dubliner Aviva Stadium war Torhüter Kasper Schmeichel am Ball vorbeigeflogen und Innenverteidiger Shane Duffy hatte die 50.000 Iren in Ekstase versetzt. 1:0 nach sechs Minuten für den Gastgeber. Nach dem 0:0 im Hinspiel war Irland zu diesem Zeitpunkt für die WM-Endrunde 2018 in Russland qualifiziert.
Alle Augen also auf Christian Eriksen. Denn es würde nun bei den heimstarken Iren einen großen Tag des dänischen Regisseurs brauchen, um den großen Traum einer WM-Teilnahme zu erfüllen. Viel Druck auf schmalen Schultern.
29. Minute: Eriksen spielt auf dem linken Flügel Pione Sisto frei, der sich im Eins-gegen-Eins durchsetzt, Andreas Christensen bedient, der den Ball irgendwie über die Linie drückt.
32. Minute: Eriksen wird angespielt und knallt den Ball mit rechts in den linken Winkel. 2:1, Spiel gedreht. Eriksen rutscht auf den Knien der Eckfahne entgegen, in der Heimat liegen sich die Leute in den Armen.
63. Minute: Eriksen schlenzt den Ball aus 17 Metern, dieses Mal mit links, ins linke Eck. Doppelpack. "Eriksen! Eriksen! Eriksen!", schreit der dänische TV-Kommentator.
74. Minute. Nach einem schlimmen Patzer von Stephen Ward rauscht Eriksen in vollem Tempo heran und drischt den Ball, nun wieder mit rechts, in den rechten Winkel. Die Entscheidung, der gesamte Gästeblock ein Tollhaus. Mit Mühe halten die irischen Ordner eine Handvoll Fans davon ab, zu Eriksen aufs Feld zu stürmen und ihren Helden zu bestürmen, der mit ausgebreiteten Armen wenige Meter vor ihnen steht.
"König Christian schickt Dänemark zur WM", titelt die dänische Tageszeitung Ekstrabladet danach und beschreibt, was Eriksen spätestens im November 2017 ist: der fußballerische König einer ganzen Nation. Und einer, der die riesigen Fußstapfen, die sich schon in jungen Jahren auch im Dress von Danish Dynamite vor ihm ausbreiteten, ausfüllt.
Morten Olsen konnte nicht anders, als Eriksen im Alter von 18 Jahren in die Nationalmannschaft zu berufen, wie er sich erinnert. Eriksen sei ein Ausnahmefußballer gewesen, das habe man sofort gesehen, sagt Olsen, der die dänische Nationalmannschaft von 2000 bis 2010 coachte. Im November 2009 sah er ihn das erste Mal live, im März 2010 ließ er ihn gegen Österreich debütieren, im Sommer nahm er Eriksen mit zur WM.
Schon beim Turnier in Südafrika habe man Eriksens Bescheidenheit gesehen. "Gleichzeitig hatte er aber eine gesunde Arroganz", sagt Olsen.
"Er war auf dem Platz sehr selbstbewusst, traute sich auch schwierige Aktionen sofort zu. Es verkörperte eine sehr spannende Mischung: Obwohl er diese ganz besonderen Fähigkeiten hatte, war er immer gewillt, ein besserer Spieler zu werden – und dabei sehr geduldig."
In Dänemark kamen schnell Vergleiche mit den Laudrup-Brüdern auf, die Eriksen als Kind verehrt hatte. Am jungen Ajax-Akteur perlten die Lobeshymnen ab. Schon 2012 war er bei der EM in Polen und der Ukraine wichtiger "Impulsgeber", wie Olsen es nennt. Und doch fehlte dem erfahrenen Coach in diesen Jahren etwas in Eriksens Spiel. Deshalb fasste er im Oktober 2014 einen Entschluss.
"Wenn man einen Spieler dieser Qualität hat, muss man manchmal das letzte Bisschen aus ihm herauskitzeln. Manchmal reicht es, jemanden intern zu kritisieren, manchmal muss man das aber auch öffentlich tun, um das letzte bisschen Potenzial freizusetzen", erinnert er sich.
Eriksen gelinge es nicht, Spiele zu kontrollieren, sagte Olsen öffentlich auf einer Pressekonferenz, er spiele nicht mehr bei Ajax. Harsche Worte, die die geplante Wirkung aber voll entfalteten: Eriksen erzielte in den folgenden 20 Länderspielen 15 Tore, spielte wie entfesselt und war wenige Monate später gegen die USA zum ersten Mal Kapitän.
Dänemark scheiterte zwar in den Playoffs um die EM-Teilnahme an Schweden, marschierte aber mit einem herausragenden Eriksen durch die WM-Quali, Eriksen traf achtmal in zehn Spielen, lieferte zudem vier Assists. Mit dieser Form im Rücken ging es gegen Irland – und Eriksen avancierte zum König von Dänemark.
Begeistert verfolgten die Menschen im Land die WM, bei der gegen Kroatien im Achtelfinale Schluss war. Eriksen scheiterte wie Lasse Schöne und Nicolai Jörgensen im Elfmeterschießen an Danijel Subasic. Groll hegte aber niemand. "Die Fans unabhängig vom Resultat von der Art und Weise des dänischen Spiels begeistert", sagt Olsen. "Ihr könnt stolz auf Euch sein", schrieb die Jylland-Posten.
Bei Eriksen ist es in abgeschwächter Form ein wenig so wie bei Messi und Ronaldo, er muss sein Team tragen, die Erwartungen sind immens. Eriksen, der frühreife Spielmacher aus Middelfart, spielt dennoch einfach sein Spiel. "Jeder verglich ihn mit Michael Laudrup. Im modernen Fußball existiert keine Geduld. Jeder erwartet von jungen Talenten sofort Top-Leistungen", sagt Olsen am Telefon, macht eine kurze Pause und schiebt einen kurzen Satz nach, der die Karriere Eriksens sehr gut beschreibt: "Für Christian war das aber überhaupt kein Problem."
Der Superstar
Ein milder Novemberabend im Londoner Bezirk Brent. Ein weiteres Spiel in der so unbeliebten Übergangs-Heimat namens Wembley Stadium, die für die Jungs von der White Hart Lane keine Heimat ist. Nur 57.132 Zuschauer sind gekommen, um sich jenes Spiel anzusehen, das den weiteren Saisonverlauf entscheidend prägen könnte: Inter Mailand ist am 5. Spieltag der Champions-League-Gruppenphase zu Gast.
Das Spiel ist eng, Torchancen sind rar. Harry Winks trifft nach 38 Minuten mit einem Fernschuss die Latte, Jan Vertonghen köpft einen Freistoß von Christian Eriksen nach 70 Zeigerumdrehungen knapp vorbei. Zu diesem Zeitpunkt sind die Spurs vorzeitig aus der Königsklasse ausgeschieden. Dann die 80. Minute. Ein dynamischer Lauf von Moussa Sissoko, eine schnelle Drehung und ein kurzer Pass von Dele Alli, ein trockener Abschluss von Eriksen, der typische Jubel auf den Knien, Ekstase auf den Rängen. Tottenham gewinnt das Spiel mit 1:0, zieht zwei Wochen später nach einem 1:1 beim FC Barcelona ins Achtelfinale ein.
Eriksen ist inzwischen einer für die entscheidenden Momente auf höchstem Niveau. Es ist ein weiterer, vielleicht entscheidender Schritt in seiner Entwicklung, den er in London vollzogen hat.
Dabei brauchte er nach seinem Wechsel zu Tottenham zunächst eine Anlaufzeit von vier Monaten, um in England anzukommen. Rund um den Jahreswechsel drehte der Däne schließlich auf, traf am Boxing Day gegen West Brom und war am Neujahrstag 2014 beim 2:1-Sieg gegen Manchester United mit einem Tor und einer Vorlage der entscheidende Mann. Am Ende seiner ersten Saison, in der Eriksen zwischenzeitlich von einer Verletzung ausgebremst worden war, war er mit sieben Toren und acht Vorlagen in 25 Spielen bester Scorer der Spurs.
Der sechste Platz war allerdings ein enttäuschendes Resultat für Tottenham. Nach der Saison ersetzte man Tim Sherwood durch Mauricio Pochettino und läutete eine erfolgreiche, aber noch immer titellose Ära ein, in der Eriksen zum Leistungsträger und Schlüsselspieler avancieren sollte.
Tottenham etablierte sich in den vergangenen Jahren als absolutes Top-Team, wurde 2015 Fünfter, 2016 Dritter, 2017 Zweiter und 2018 erneut Dritter. Mittendrin: Christian Eriksen.
"Bei Tottenham ist Christian immer Dreh- und Angelpunkt. Er bekommt jeden Ball", sagt Jol, der die Spurs von 2004 bis 2007 trainierte: "Wenn sich der Gegner zurückzieht, das Spielfeld eng macht, wenn es keine Räume gibt, findet er Lösungen. Das ist auch die Stärke der Spurs. Sie spielen immer nach vorne – und das liegt an Christian. Er hat schon immer so gespielt. Er spielt nicht breit, er spielt vorwärts, sucht das Risiko. Und trotzdem macht er inzwischen fast keine Fehler mehr."
Seit seinem Wechsel zu Tottenham bereitete Eriksen in der Premier League mehr Tore vor als jeder andere Spieler, zudem gab er die meisten Torschussvorlagen aller Akteure.
"Zu seiner Anfangszeit bei Ajax hatte er nicht regelmäßig 70 oder 80 Ballaktionen. Das hat sich im Laufe der Zeit entwickelt. Heutzutage ist er allgegenwärtig", meint Jol.
"Er ist genauso gut, wie es Andres Iniesta war. Ich sehe fast jedes Tottenham-Spiel und Christian ist in meinen Augen mit David Silva von Manchester City die beste Nummer 10 der Welt. Silva ist auch ein Phänomen, Christian und er spielen ungefähr in der selben Liga, wobei Christian mit dem schwachen Fuß stärker ist."
Eriksen, früher in der öffentlichen Wahrnehmung ein guter Spielmacher, aber keiner, den man mit dem Prädikat 'Weltklasse' in Verbindung gebracht hätte, ist inzwischen ein Superstar, der auch in England, dort, wo sich so viele Top-Spieler tummeln wie nirgendwo sonst, als solcher gesehen wird.
Auf der Insel hat sich Eriksen noch einmal weitergewickelt, ist unberechenbarer geworden, variabler. "Ich habe ihn bei Ajax ein, zwei Mal auf der linken Seite spielen lassen, das fand er nicht so schön. Bei den Spurs hat er das inzwischen gelernt. Er ist fast komplett", sagt Jol.
Beeindruckend sei auch Eriksens Physis, betont er: "Christian ist auch körperlich unheimlich stark. In der Premier League läuft er wie verrückt, macht um die zwölfeinhalb, 13 Kilometer pro Spiel. Das sieht man vielleicht nicht direkt, weil er so leichtfüßig spielt."
Der Wechsel zu Tottenham sei "genau der richtige Schritt" gewesen, meint Urby Emanuelson, "aber jetzt ist er bereit, um bei einem noch größeren Verein zu spielen. Christian könnte in jeder Mannschaft der Welt eine Schlüsselrolle einnehmen".
Die Meinung hat Emanuelson nicht exklusiv. Im Gegenteil. Alle, die man nach Eriksen fragt, glauben, dass der bescheidene Christian aus Middelfart bereit ist, den nächsten Schritt zu gehen. Bereit, endlich große Titel zu gewinnen.
Denn wenn es einen Makel gibt in Eriksens bisheriger Karriere, dann sind es die fehlenden Titel auf höchstem Niveau. In seiner nunmehr fünfeinhalbjährigen Zeit bei den Spurs reckte er noch nicht einen Pokal in die Höhe.
"Natürlich ist er gut genug, um bei Real oder Barca zu spielen. Wenn er geht, dann wird er mindestens 100 Millionen Euro einbringen", ist sich Jol sicher. Auch Glen Riddersholm glaubt: "Er kann es bei jedem Klub der Welt schaffen. Einfach deshalb, weil er sich jedem System anpassen kann. Er ist ein so intelligenter Spieler, dass er sofort auf höchstem Niveau das Spiel an sich reißen kann. Auch bei Barcelona oder Real."
Die beiden spanischen Giganten sollen tatsächlich Interesse haben. Eriksen, noch immer erst 26 Jahre alt, stehen viele Türen offen. Wieder einmal.